Menschengerechte Arbeit
"Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen." Dieses von Martin Luther überlieferte Wort, das Arbeit zum Constitutivum des Menschseins erklärt, ist grundrichtig oder grundfalsch - je nachdem, was dabei unter "Arbeit" verstanden wird. Arbeit kann dementsprechend den Menschen zur Verwirklichung seiner Wesensbestimmung oder aber zur völligen Selbstentfremdung führen.
Dass die Bedeutung der Arbeit für das menschliche Leben in der jüdisch-christlichen Tradition äußerst unterschiedlich bewertet wird, zeigt sich bereits in den ersten Kapiteln der Bibel: Gen l,26f erzählt die Erschaffung des Menschen als Bild Gottes. Gott begegnet in diesem Kapitel v. a. als kreativ Schaffender. Seine Tätigkeit schafft und ermöglicht Leben. Darin also soll der Mensch Ihm ähnlich sein. Nur zwei Kapitel später, in der Erzählung vom Fall des Menschen, ist dann Arbeit viel negativer konnotiert: als Folge der Verstoßung aus dem Paradies. (vgl. Gen 3,16ff)
Dementsprechend stark divergieren in der christlichen Sozialtradition die Bedeutungszuschreibungen von Arbeit für das Heil des Menschen. Dem eingangs erwähnten Luther-Zitat sei nur exemplarisch ein anderer großer Theologe gegenübergestellt: Thomas v. Aquin leitet den Wert menschlicher Arbeit nur von der Notwendigkeit des Überlebens ab und sieht bestenfalls einen indirekten Nutzen und Wert von Arbeit im Sinne der Askese, also in der Überwindung des von ihm negativ konnotierten Müßiggangs und in der Zähmung des Körpers und seiner Begierden. Naturgemäß spielt die Auseinandersetzung mit der menschlichen Arbeit in der katholischen Soziallehre der letzten 130 Jahre eine zentrale Rolle. Dabei haben v. a. die ersten Sozialenzykliken Arbeit hauptsächlich in ihrer Ausformung als Erwerbsarbeit im Blick. Aber insbesondere „Laborem exercens" (Johannes Paul II., 1981) bietet eine ganz grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Arbeit generell für das menschliche Leben und bricht damit zumindest implizit die Engführung des Arbeitsbegriffs auf die berufliche Erwerbsarbeit auf.
Sie entspricht damit gut dem Befund jüngerer volkswirtschaftlicher Studien, die berechnen, dass weltweit wenigstens 2/ 3 aller für ein gutes menschliches und gesellschaftliches Leben nötigen Arbeitsleistungen unentgeltlich erbracht werden: in privaten Haushalten, als solidarische bzw. ehrenamtliche Leistungen im Nachbarschaftsumfeld, in Vereinen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen usw. Insgesamt lässt sich jedenfalls sagen, dass in der kirchlichen Sozialverkündigung mehrere Grunddimensionen bzw. -funktionen menschengerechter Arbeit unterschieden werden, die alle in ausgewogener Relation zueinander stehen müssen, damit Arbeit tatsächlich ihren Beitrag zur Entfaltung der menschlichen Person leistet und sie nicht vielmehr von ihrem Seinszweck entfremdet:
1. Die naturale Dimension der Arbeit
Um seine Existenz zu sichern, muss sich der Mensch - arbeitend - mit seiner natürlichen Umwelt auseinandersetzen. Er muss sich seinen lebensnotwendigen Bedarf aus und mit den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen „erarbeiten". Arbeit ist hier also - ganz im Sinne Thomas v. Aquins - v. a. notwendiges Mittel zum Überleben. (Vgl. Rerum novarum, 34, Leo XIII., 1892) Daraus folgt logisch der Schluss, dass in einer Gesellschaft, in der es keine andere Möglichkeit der legalen Existenzsicherung als die Erwerbsarbeit gibt, es auch ein Recht auf Erwerbsarbeit und Familienlohn geben muss. Das bedeutet zwar kein individuell einklagbares Recht, etwa auf einen bestimmten Arbeitsplatz, sehr wohl aber eine unbedingte Verpflichtung der Gesellschaft, durch entsprechende wirtschafts-, sozial- und arbeitspolitische Maßnahmen all jenen eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten, die dadurch den Lebensunterhalt für sich und ihre Schutzbefohlenen erwerben müssen.
2. Die schöpferische Dimension der Arbeit
Entsprechend der biblischen Überlieferung ist Arbeit als Konkretisierung des Glaubens zu deuten, dass der Mensch aktiv an Gottes Schöpfungswerk teilhat (vgl. Gen 2,15) und dass er gerade dadurch seine Bestimmung als „Bild" Gottes verwirklicht (s.o.). Weil Gottes Schöpfung aber grundsätzlich gut ist und das Leben will, ist Arbeit nur dann echte Teilhabe an der göttlichen Schöpfung und insofern „menschenwürdig", wenn sie ebenfalls im Dienst des Lebens steht, d.h. seiner Ermöglichung, Mehrung und Bewahrung dient. Arbeit ist so verstanden kein selbstherrliches Machtinstrument des Menschen, sondern „Tätigkeit des Bewahrens und Schaffens in globaler Solidarität" (K. Koch/D. Sölle).
In Beachtung dieser schöpferischen Dimension der Arbeit und der gewaltigen ökologischen Herausforderungen der Gegenwart ist deshalb die Transformation der imperialistischen Wirtschaftsweise der jüngeren Geschichte ein Gebot der Stunde, soll die Arbeitswelt nicht länger ein Ort der Erfahrung ungeheurer Gewalttätigkeit und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen sein. Der Schweizer reformierte Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti formulierte dazu einmal pointiert: ,,Allmählich entrutscht dem bürgerlichen/marxistischen Gott der Arbeit seine ach so moralische Maske. Immer mehr Arbeit entpuppt sich als Mittäterschaft an einem gigantischen Zerstörungswerk. Man wird bald froh sein müssen um jeden, der nicht mehr arbeiten will, und ihn auf Kosten der blindlings Tätigen dafür entlohnen."
3. Die personale Dimension der Arbeit
Arbeit ist durch die in sie investierte kreative aber auch sittliche Kraft unmittelbarer Ausfluss und persönliches Gut des arbeitenden Menschen und dient insofern der Entfaltung und Bewährung der menschlichen Personalität. In der Arbeit - verstanden sowohl als kreativer und kommunikativer aber auch sittlicher Akt - verwirklicht sich der Mensch als Person (Vgl. Laborem exercens, 9). Diese Sichtweise darf allerdings nicht zu einer Mystifizierung der Arbeit führen (vgl. Populorum progressio, 26f., Paul VI., 1967): Menschsein verwirklicht sich zwar durch Arbeit, aber nicht nur durch sie. Die primäre Bestimmung des Menschen ist es, Bild Gottes zu sein - aber nicht nur des schöpferisch-tätigen, sondern auch des gewährend- ruhenden Gottes.
Das biblische Sabbatgebot will das eigentliche Ziel der Schöpfung in Erinnerung halten: Dieses liegt nicht in einem ununterbrochenen Schaffensprozess um seiner selbst willen, sondern alle Schöpfung steht im Dienst des Lebens. So darf auch Arbeit niemals zum Selbstzweck werden, sondern sie ist immer nur sinnvoll und menschengerecht, sofern sie tatsächlich der Selbstentfaltung des Menschen als kreatives, soziales und sittliches Subjekt dient. Daraus folgt, dass bei der Bewertung von Arbeit immer auch Arbeitsprozess und Arbeitsergebnis Berücksichtigung finden müssen: Es wäre nicht nur u. U. ökologisch, sondern auch gegenüber den arbeitenden Menschen absolut unverantwortlich, ihnen keine andere Möglichkeit zur Existenzsicherung zu bieten als etwa durch unsittliche oder einfach sinnwidrige Erwerbsarbeit (Stichworte: Überproduktion, lebensfeindliche Produkte, wie z. B. manche Kreationen der Rüstungsindustrie, Suchtmittel etc.) bzw. unter menschenunwürdigen und/ oder gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen.
Der Mensch muss in seiner Arbeit seine Bestimmung als Mensch (und nicht als bloßer Produktionsfaktor) verwirklichen und entfalten können. Auch angesichts von Massenarbeitslosigkeit ist die Forderung nach einer umfassenden Humanisierung der Arbeitswelt also kein Luxus. ,,Humanisierung" meint dabei nicht nur die Schaffung gesünderer Arbeitsbedingungen, sondern letztlich die Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf ethisch bestimmte Werte hin. Arbeit unter menschenunwürdigen bzw. naturwidrigen Bedingungen hat ja selbst bei drohender Arbeitslosigkeit keinen echten Wert, weil sie den höchsten sittlichen Wert - die Personenwürde des Menschen - verrät bzw. korrumpiert.
4. Die soziale Dimension der Arbeit
Arbeit ist auch Beitrag des Einzelnen zum Gemeinwohl, d.h. zur Schaffung der Voraussetzungen und zur Gestaltung guten gesellschaftlichen Zusammenlebens (Vgl. Rerum novarum, 27). Zudem tritt der Mensch durch seine Arbeit in Kommunikation und Wechselbeziehung mit seiner Umwelt, verändert sie gestaltend und entwickelt sich dabei selbst weiter. Die soziale Dimension der Arbeit wird besonders erfahrbar (a) in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Chance der Bereicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Vertiefung solidarischen Zusammenhalts und (b) im Bedürfnis des Menschen nach sozialer Anerkennung, welche in bzw. durch Arbeit gesucht und errungen wird.
Arbeit ist also Grundlage sowohl für zwischenmenschliche Solidarität als auch für Sozialprestige bzw. Anerkennung des Einzelnen (wenigstens in Form von Einkommen). Daraus ergeben sich die Forderungen (a) nach Möglichkeiten der aktiven Partizipation, d. h. Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Erwerbstätigen in der Arbeitswelt, und (b) nach Anerkennung auch jener Arbeit als gesellschaftlich wertvoll, die in der gegenwärtigen Erwerbsarbeitsgesellschaft nur ungenügend gewürdigt bzw. (weil sie eben kein unmittelbares Einkommen generiert) sogar als ,,Nicht-Arbeit" gewertet wird. Ein Weg aus dieser Engführung des Arbeitsbegriffs wäre die Auflösung der gewohnten und bis in unsere Sozialsysteme hineinreichenden exklusiven Koppelung von Arbeit und Einkommen, z.B. durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Fragwürdiger wäre dagegen die wirtschaftliche Bewertung und dementsprechende materielle Abgeltung der bisherigen „Nicht-Arbeit", weil das der solidarischen Grundverfasstheit menschlicher Gesellschaft zuwiderliefe und einer totalen Ökonomisierung des menschlichen (Zusammen-)Lebens Vorschub leistete.
5. Die politische Dimension der Arbeit
Arbeit ist immer auch Ausdruck von organisierten Interessen und bewusst gewählten Optionen. Es sind also niemals nur etwa ökonomische Notwendig- oder Gesetzmäßigkeiten, sondern immer auch politische Entscheidungen, die festlegen, wer wieviel wofür um welchen Preis und mit welchen Mitteln arbeitet - und zwar auf Seiten des Kapitals wie auch der Arbeit! Arbeit bindet den Menschen also immer auch in politische Prozesse ein. Gute, menschenwürdige Arbeit muss demnach so organisiert sein, dass sie dem arbeitenden Menschen auch sittliche und politische Subjekthaftigkeit einräumt und diese nicht vielmehr behindert. Und schließlich ist es nötig, Arbeit auf politische Grundsätze zu gründen bzw. in gesellschaftliche Rahmenbedingungen einzubetten, die ein ausgewogenes Verhältnis aller hier aufgezählten Dimensionen von Arbeit ermöglichen.
Zusammenfassung
Die Qualität menschenwürdiger, guter Arbeit bemisst sich immer zugleich an
- ihrer naturalen Funktion im Sinne der Existenzsicherung
- ihrem schöpferisch-konstruktiven Verhältnis zur natürlichen Umwelt
- ihrer sittlichen Vereinbarkeit mit der Personenwürde des arbeitenden Menschen
- ihrem Beitrag zum - in einer globalisierten Welt: weltweiten! - Gemeinwohl und zur daraus resultierenden sozialen Anerkennung des Einzelnen dem Maß, in dem sie Ausdruck bewusster, politischer Entscheidungen
Autor: Markus Schlagnitweit