Zur römischen Erklärung „Dignitas infinita“ (DI)
ksœ Stellungnahme
Das anlässlich des 75. Jahrestages der Verkündung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die UNO mit leichter Verspätung erschienene römische Dokument verdient zweifellos eine kritische Rezeption. Seine 5-jährige, mehrere Redaktionsrunden durchlaufende Entstehungszeit findet einerseits Niederschlag in einigen, in ihrer Differenziertheit beachtlichen Klärungen, v.a. zum Begriff der Menschenwürde; andererseits vereint es – in Aufbau und Systematik nicht immer sofort erkennbar – zentrale Aspekte und Herausforderungen gleich mehrerer theologischer Disziplinen, näherhin der theologischen Anthropologie, der Individualethik, aber auch der kirchlichen Soziallehre. Ich beschränke mich in meiner Würdigung auf die Sichtweise des Sozialethikers.
Die katholische Kirche und die Menschenrechte
Neben vielen inhaltlichen Positionen, in denen DI nicht unbedingt Neuigkeitswert besitzt, ist DI vor folgendem Hintergrund zu lesen:
a) Die Geschichte der Kirche ist insbesondere vom heutigen Standpunkt aus keineswegs frei von teils eklatanten Verletzungen der Menschenwürde und der sich daraus ableitenden Rechte, was in DI leider nur ungenügend und auf wenige Bereiche beschränkt Erwähnung findet.
b) In dieser Geschichte gab es zwar einzelne Theologen, die heute als maßgebliche Wegbereiter für das moderne Menschenrechtsverständnis gelten können. Gleichzeitig tat sich das kirchliche Lehramt aber über lange Perioden seiner Geschichte hinweg auch nicht leicht bei der durchgängigen Anerkennung allgemeiner Menschenrechte.
c) In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wird zwar weithin wahrgenommen und ist bekannt, dass die Kirche selbst die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der UNO selbst nie unterzeichnet hat, nicht aber die besonderen Gründe dafür, die primär dem völkerrechtlichen Sonderstatus des Vatikan geschuldet sind, der innerhalb der UNO ja nur Beobachterstatus, aber keine reguläre Mitgliedschaft besitzt.
Vor diesem Hintergrund stellt DI ein eindeutiges, klares und in dieser Form zweifellos begrüßenswertes kirchliches Bekenntnis zu den Universalen Menschenrechten dar.
DI als Soziallehre-Dokument
Besondere Aufmerksamkeit verdient das 4. Kapitel, in dem „einige schwere Verstöße gegen die Menschenwürde“ aufgelistet und behandelt werden – wenngleich in teilweise sehr unterschiedlicher Qualität. Auffallend und besonders für die Rezeption von DI in den wirtschaftlich, sozial und (demokratie-)politisch hochentwickelten Staaten der nördlichen Hemisphäre beachtenswert erscheint mir die Reihung der hier aufgelisteten Verstöße. Diese beginnt nicht mit den in der öffentlichen Wahrnehmung „typischen“ kirchlichen, vorwiegend individualethischen Problemfeldern des umfassenden Lebensschutzes am Beginn und Ende des menschlichen Lebens, der Sexualmoral etc., sondern mit primär sozialethischen Themen: Armut, Krieg, Migration und Menschenhandel. Das ist aus zumindest zwei Gründen bedeutsam:
a) Darin wird die in den oben genannten Gesellschaften häufig immer noch wenig verstandene und nicht selten auch abgelehnte und bekämpfte „Handschrift“ des gegenwärtigen Pontifikats deutlich sichtbar: Pp. Franziskus räumt den Themenfeldern, die traditioneller Weise der kirchlichen Soziallehre zugerechnet werden und hinter denen sein Vorgänger, Pp. Johannes Paul II., vielfach „Strukturen der Sünde“ identifiziert hat, weshalb sie auch auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen und also politisch behandelt und bekämpft werden müssen, mindestens dieselbe Dringlichkeit und Wichtigkeit innerhalb der kirchlichen Moralverkündigung ein wie deren individualethischen Themenbereichen.
b) In dieser Reihung wird auch ein weltweit wichtiger und notwendig zu führender Diskurs über Inhalt, Gewichtung und Geltung der Menschenrechte aufgegriffen, der starke kulturelle Unterschiede in deren Verständnis und Rezeption wiederspiegelt: Während in den in der Tradition der europäischen Aufklärung stehenden Gesellschaften innerhalb des Menschenrechtskanons vorwiegend die individuellen, bürgerlichen und politischen Grund- und Freiheitsrechte Priorisierung und Beachtung finden, liegt der Fokus in vielen Gesellschaften des „Südens“ (aus denen ja auch Pp. Franziskus stammt) häufig viel stärker auf den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten der UNO-Charta, die in vielen Ländern des „Nordens“ – wenngleich zumeist ratifiziert – häufig nicht in deren Verfassungen und Grundrechtskatalogen Aufnahme gefunden haben und deshalb auf erhebliche Schwierigkeiten in der konkreten Anwendung und Einklagbarkeit bzw. politischen Praxis stoßen.
DI kann also auch gelesen werden als klare Positionierung gegen eine Partikularisierung des Menschenrechtskanons zulasten der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und ist besonders unter diesem Aspekt auch ein wichtiges Dokument der Katholischen Soziallehre.
Deutsche Übersetzung der Dignitas infinita
Veröffentlichungsdatum: 12.04.2024
Autor: Markus Schlagnitweit
Rückfragen per Mail oder unter: 0676 87763501