Solidarität kostet – ihr Mangel noch unvergleichlich mehr!
ksœ Stellungnahme
Angesichts der deutlich angestiegenen Inflation und damit einhergehender Wohlstandsverluste sinken in vielen Ländern der EU, auch in Österreich, die Zustimmungswerte zur Solidaritätspolitik der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber der Ukraine. Diese umfasst ja nicht nur direkte humanitäre, wirtschaftliche und militärische Unterstützungsleistungen, sondern auch die wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Aggressor Russland, welche insbesondere im Energie- und Agrarsektor deutlich spürbare Rückwirkungen auf die Staatengemeinschaft selbst haben. Dazu kommt, dass wir uns mit Klimaerwärmung und COVID-Pandemie ja in einer multiplen Krise befinden, die hart in individuelle wie gesamtgesellschaftliche Lebenskonzepte eingreift und ebenfalls nur durch solidarische Lösungen bewältigt werden kann. Obwohl angesichts dieser Krisen in weiten Kreisen auch viel ernsthafte Anstrengungen, großzügige Hilfsbereitschaft und entschlossene Veränderungsbemühungen wahrzunehmen sind, fühlen sich viele Menschen überfordert. Die sinkende Solidaritätsbereitschaft ist deshalb zwar nachvollziehbar, sie ist aber dennoch gefährlich und erfüllt mit ernster Sorge.
Ihr gegenüber gilt es v.a. mit Blick auf die Ukraine-Krise zunächst festzuhalten: Ein Angriff auf die territoriale Integrität und politische Souveränität eines völkerrechtlich anerkannten Staates betrifft nie nur diesen selbst, sondern die gesamte Staatengemeinschaft, weil diese ein originäres Interesse an der Respektierung und Einhaltung der in der UN-Charta verbrieften Friedensordnung haben muss, zu deren wesentlichen Elementen ein absolutes Verbot militärischer Aggression zwischen souveränen Staaten gehört. Russland stellt mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine also nicht nur deren völkerrechtlich anerkannte staatliche Integrität infrage, sondern die gesamte internationale Friedensordnung. Die militärische Aggression gegen ein einzelnes Mitglied der Staatengemeinschaft ist letztlich eine Aggression gegen diese selbst. Russland hat mit seinem Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta also nicht nur die Ukraine in einen Krieg gezogen, sondern die gesamte internationale Staatengemeinschaft.
An diesem Punkt wird deutlich, dass Solidarität im Sinne der Katholischen Soziallehre nie nur eine moralische Haltung bzw. Gesinnung meint, sondern letztlich eine Seins-Tatsache, die im konkreten Fall der internationalen Völkergemeinschaft bedeutet: Kein Staat existiert isoliert für sich, sondern ist immer Teil eines internationalen Haftungsverbundes. „Einer für alle – alle für einen“ – das gilt nicht nur für die Unterstützungspflicht in einer Krisensituation, sondern auch für die Betroffenheit von derselben. Genauso betrifft aber auch die starke oder schwache Solidaritätsbereitschaft eines einzelnen Staates immer diesen weltweiten Haftungsverbund als Ganzes. Deshalb impliziert eine starke Solidarität nie nur höhere Sicherheit und Krisen-Resilienz für alle Mitglieder eines Haftungsverbundes, sondern auf der anderen Seite auch die Bereitschaft, deren Kosten gemeinsam zu tragen – und zwar nach Maßgabe des jeweiligen Vermögens der einzelnen Mitglieder. Mangelnde Solidaritätsbereitschaft und bloße „Trittbrettfahrerei“ eines Mitglieds schwächt dagegen die gesamte Solidargemeinschaft, was im Krisen- bzw. Ernstfall und auf lange Sicht negative Konsequenzen, also noch höhere Kosten für den „Solidaritäts-schwachen“ Staat selbst zeitigen wird.
Wenn also im konkreten Anlassfall die Solidaritäts- und Verteidigungsbereitschaft eines Staates gegen Verletzungen der internationalen Friedensordnung abnimmt, stellt er im selben Moment diese selbst infrage und schwächt sie. Das kann nicht im Sinn verantwortungsvoller Politik sein. Letztlich lauten im konkreten Fall des Ukraine-Konflikts die Alternativen: absolutes Bekenntnis zu UN-Gewaltverbot bzw. UN-Friedensordnung (inklusive der damit einhergehenden Solidaritätserfordernisse und -kosten) oder Zustimmung zur Etablierung eines geopolitischen „Faustrechts“, was auf lange Sicht nicht einmal im Interesse der stärksten Mitglieder der Staatengemeinschaft liegen kann.
Freilich wird zurecht darauf hingewiesen, dass politische Maßnahmen zur Verteidigung der internationalen Friedensordnung schwer oder gar nicht tragbare Rückwirkungen – sei es für einzelne Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft, sei es für bestimmte Bevölkerungsgruppen innerhalb derselben – zur Folge haben können. Solidarität verpflichtet in diesem Fall nicht nur gegenüber einem unmittelbar in seiner Existenz bedrohten Mitglied der Staatengemeinschaft, sondern auch gegenüber allen von den Lasten der Solidarhandlungen besonders negativ Betroffenen: einzelnen Menschen, bestimmten Bevölkerungsgruppen oder auch Staaten. Da eine Solidargemeinschaft immer nur so stark ist, wie ihre schwächsten Glieder, ist besonderes Augenmerk stets darauf zu richten, dass die Lasten von Solidarhandlungen so verteilt werden, dass sie auch von allen mitgetragen werden können. Das ist eine wesentliche Aufgabe krisengerechter Politik: Die Lasten der Solidarität sind durch möglichst treffsichere und differenzierte Maßnahmen auf ein für alle Gesellschaftsglieder zumutbares Maß zu verteilen, und diese Verteilungspolitik ist auch entsprechend transparent zu kommunizieren.
Angesichts stark strapazierter Solidaritätsbereitschaft ist also immer wieder darauf hinzuweisen: Starke Solidarität stärkt alle Beteiligten; sie kostet aber auch. Schwache oder gar keine Solidarität in der Bewältigung von Krisen kostet aber noch unvergleichlich mehr – auf alle Fälle langfristig. In der aktuellen Krise braucht es also v.a. langen Atem, eine nüchtern-realistische Kommunikation über die negativen Folgen schwacher Solidarität, verständliche Erklärungen von Solidarmaßnahmen, v.a. aber Einstehen und Unterstützung nicht nur für die unmittelbar betroffenen Opfer einer Krise, sondern auch für die von den Kosten der internationalen Solidarität am stärksten belasteten Bevölkerungsteile und Gesellschaftssektoren.
Autor: Markus Schlagnitweit