Zum Ukraine-Krieg aus friedensethischer Perspektive
ksœ Stellungnahme
Dass sich die christlichen Kirchen mit einer einhelligen Botschaft und Positionierung zum Ukraine-Krieg schwertun, ist in den vergangenen Wochen offenkundig geworden. Die Stellungnahmen reichen vom kompromisslosen Bekenntnis zum absoluten Prinzip der Gewaltlosigkeit bis hin zur Rechtfertigung der russischen Aggression als „metaphysischem Kampf gegen das Böse“ durch das Moskauer Patriarchat. Auch die Katholische Sozialakademie Österreichs versucht hier, einen friedensethischen Diskussionsbeitrag zu leisten.
Friedensethische Erwägungen
Recht auf Verteidigung
Das christliche Grundprinzip der gewaltfreien Konfliktlösung kann in einer bereits bestehenden Kriegs-Situation nicht mehr uneingeschränkt Geltung beanspruchen. An seine Stelle muss das Prinzip der Gewalt- bzw. Schadens-Minimierung treten. Jedem Opfer einer Aggression steht das Recht auf Notwehr und Verteidigung seiner Souveränität unbedingt zu, sofern diese Souveränität selbst auf legitimen Grundlagen beruht. Davon ist im Fall der Ukraine auszugehen. Der Einsatz militärischer Mittel ist aber auch in diesem Fall nur als ultima ratio nach Ausschöpfung aller anderen gewaltfreien Handlungsoptionen gerechtfertigt; außerdem muss er verhältnismäßig sein und begründete Aussicht auf Erfolg haben.
„Erfolg“ bedeutet in diesem Fall die Abwehr der russischen Aggression, d.h. die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der staatlichen und politischen Souveränität sowie der territorialen Integrität der Ukraine. Darüberhinausgehende – etwa von US-amerikanischen Regierungsvertretern formulierte – Kampfziele, wie z.B. eine derartige Schwächung Russlands, dass es keine oder überhaupt nie mehr eine Bedrohung darstellen kann, würden die Legitimität der militärischen Notwehr bzw. Verteidigung mindern bzw. beenden. Die zur legitimen Verteidigung eingesetzte militärische Gewalt muss sich stattdessen auf das notwendige Maß zur erfolgreichen Verteidigung beschränken – in der Zielsetzung wie in der Wahl der Mittel.
Unterstützung der Ukraine als Verteidigung des Völkerrechts
Die moralische Beistandspflicht gegenüber dem Opfer einer eindeutig völkerrechtswidrigen Aggression schließt auch eine entschlossene Solidarität mit diesem durch die anderen Staaten der Völkergemeinschaft ein – mit u.U. erheblichen Belastungen für den eigenen Staatshaushalt bzw. die eigene Volkswirtschaft. Diese Belastungen sind zu rechtfertigen mit Blick auf die durch die militärische Aggression gefährdeten international anerkannten Strukturen einer dauerhaften Friedensordnung: Ein Angriff auf die territoriale Integrität und politische Souveränität eines anerkannten Staates betrifft ja nie nur diesen selbst, sondern die gesamte Staatengemeinschaft, welche letztlich ein originäres Interesse an der Respektierung und Einhaltung der in der UN-Charta verbrieften Friedensordnung haben muss. Im konkreten Fall der Ukraine als „internationale Kornkammer“ steht überdies die weltweite Versorgungsicherheit mit Lebensmitteln zur Disposition.
Die Neutralität Österreichs verbietet es in einem zwischenstaatlichen Konflikt zwar, selbst unmittelbar in Kampfhandlungen einzugreifen. Auch Waffenlieferungen an kriegsführende Parteien sind auf Grundlage des Neutralitätsgesetzes verboten. Aber auch ein neutraler Staat wie Österreich muss ein Interesse daran haben und ist verpflichtet, das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Gewaltverbot bei territorialen Konflikten zu verteidigen. D.h. dass es gegenüber der Verletzung des Völkerrechts (ganz zu schweigen gegenüber manifesten Kriegsverbrechen) keine Neutralität im Sinne der Unparteilichkeit gibt. Eine Unterstützung der Ukraine im durch das Neutralitätsgesetz gesetzten Rahmen steht also nicht im Gegensatz zur prinzipiellen Neutralität Österreichs, insofern diese Unterstützung als Verteidigung des Völkerrechts und zur Abwehr von Verletzungen anderer international anerkannter Rechtsabkommen gerechtfertigt werden kann. Es geht bei solchen Unterstützungsleistungen also nicht um Parteinahme für eine Kriegspartei als solche, sondern um die legitime Verteidigung von Rechtsgrundlagen, auf die sich auch das neutrale Österreich selbst stützt und verpflichtet hat.
Längerfristige Perspektiven
Umgang mit Russland darf dauerhafter Friedenslösung nicht entgegenstehen
In allen kurz- und mittelfristigen politischen wie militärischen Maßnahmen muss die Perspektive dauerhaften Friedens und der Versöhnung bereits in Zeiten des Krieges vorherrschend bleiben. D.h., dass auch der militärische und politische Gegner ein Mensch mit Rechten bzw. Russland ein erneut in eine tragfähige Friedensordnung zu integrierender Staat bleibt.
Keine Maßnahme zugunsten einer möglichst raschen Beendigung der kriegerischen Gewalt darf deshalb einer dauerhaften Friedenslösung entgegenstehen oder diese gar verunmöglichen. D.h., dass legitime Sicherheits- und vitale wirtschaftliche Interessen auch des Aggressors Beachtung und Akzeptanz finden müssen (nicht freilich deren Durchsetzung durch militärische Gewalt!) – als unabdingbare Voraussetzung für eine neue Friedensordnung, die nicht erneut auf Unterdrückung und Gewalt aufbaut oder Anlässe dafür liefert.
Russland darf also nicht per se dämonisiert werden. Kriegsverbrechen sind natürlich zu ahnden – aber nur die dafür Verantwortlichen! Es gibt hier keine Kollektivschuld, auch nicht in der Verantwortung für die Verletzung des Völkerrechts. Als Nation muss Russland auch nach entschlossener und ehestmöglicher Zurückschlagung seiner Aggression Verhandlungspartner auf Augenhöhe bleiben können. Hass, Rache und demütigende Strafsanktionen gegen Russland dürfen nach Ende des Krieges keine Leitmotive bei den Friedensverhandlungen sein.
Die aktuellen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland dürfen deshalb in keine dauerhafte Isolierung Russlands münden. Auch die Bemühungen der EU-Staaten, die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen und Energieträgern zu verringern, dürfen nicht dazu führen. Einseitige Abhängigkeiten sind zwar generell problematisch, weil sie erpressbar machen; gegenseitige Abhängigkeiten und wirtschaftliche Kooperation auf Augenhöhe sind aber weiterhin eine bessere Basis für eine stabile Friedensordnung als Isolationismus oder militärische Abschreckung. Die Gründungsidee der EU – Frieden durch wirtschaftliche Verflechtung und Zusammenarbeit – sollte auch über deren Grenzen hinaus handlungsleitend sein.
Keine (Re-)Militarisierung der Außenpolitik!
Der aktuelle Europa-weit zu vernehmende Ruf nach einer „Wiederbewaffnung“ bzw. „Aufrüstung“ der europäischen Armeen darf nicht zu einer (Re-)Militarisierung der Außenpolitik führen. Es mag legitim sein, wenn Staaten angesichts der Erfahrung, dass der Frieden auch in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, versuchen, nun Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen und ihre Verteidigungsfähigkeit zu aktualisieren und wiederherzustellen. Keinesfalls aber darf dadurch eine neue Runde von militärischer Abschreckungspolitik und Rüstungswettlauf eingeläutet werden!
Obwohl oben betont wurde, dass das christliche Grundprinzip der gewaltfreien Konfliktlösung in der unmittelbaren Kriegssituation keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, so behält es diese dennoch als Orientierung für eine nachhaltige Friedens- und Sicherheitspolitik: Das Neue Testament setzt in Fragen der Konfliktlösung eindeutig auf Gewaltfreiheit, Deeskalation und auch auf die Kraft paradoxer Intervention (vgl. Mt 5,39; Lk 6,29). Eine christlich inspirierte Friedenspolitik zielt deshalb – zumindest langfristig – nicht auf militärische Abschreckung oder Überlegenheit, sondern auf in Recht und Gerechtigkeit gründende Beziehungen zwischen den Staaten. (Vgl. GS 77ff, insb. 78)
Autor: Dr. Markus Schlagnitweit, Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs - ksœ