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„Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“
Gedanken zur „Neuaufstellung“ der Katholischen Sozialakademie Österreichs
Verfasst am 23. Juli 2020
Laut einem Beschluss der österreichischen Bischofskonferenz wurde am 1. Juli 2020 ein Prozess der „Neuaufstellung“ der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe) gestartet. Neben vielen guten Ideen und der beidseitigen Bereitschaft zur Kooperation werden innerkirchlich auch Kritik, Besorgnis und Protest laut. Regina Polak versucht die Debatten in einen größeren Kontext einzuordnen und reflektiert die Konfliktpunkte und Möglichkeiten der anstehenden Reform. Ein Long-Read zum Semesterende.
Wie politisch darf die Kirche sein? Darf, soll sie sich mit konkreten Vorschlägen, z.B. zu Sozial-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Familien- oder Migrationspolitik, einmischen? Unter welchen Bedingungen dürfen sich politische Maßnahmen „christlich“ oder „christlich-sozial“ bezeichnen?
Seit längerem gärt es in der Kirche und in der Gesellschaft Österreichs um Antworten auf diese Fragen. Nicht zuletzt zwischen der der Katholischen Kirche traditionell nahestehenden ÖVP und einigen kirchlichen Organisationen kam und kommt es dabei immer wieder zu Spannungen und Kontroversen, zugespitzt zuletzt bei der Frage nach einer Flüchtlings- und Migrationspolitik, die auch den Ansprüchen der katholischen Soziallehre genügt. Auch innerhalb der Kirche schwelt diese Frage und ist zwischen den verschiedenen christlichen Gruppierungen, die auf der Basis christlicher Sozialethik unterschiedliche politische Forderungen ableiten, weitgehend unausgetragen.
Der Kontext
Feststeht, dass alle Gläubigen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verpflichtet sind, sich als „Bürger beider Gemeinwesen“ (GS 43), der Kirche wie der Gesellschaft, in das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben der Gesellschaft aktiv und mitgestaltend einzubringen. Das zweite, dritte und vierte Kapitel der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes formulieren dazu ethische Normen, Kriterien und Aufgaben. Diese reichen vom Aufruf zur Förderung wirtschaftlichen Fortschritts zum Dienst am Menschen, zum Abbau übergroßer sozioökonomischer Unterschiede und zur Beteiligung in der Ordnung von Unternehmen und Gesamtwirtschaft bis zur Pflicht zum Einsatz für das Gemeinwohl und eine gerechte Güterverteilung und zur Forderung, sich für eine politisch-rechtliche Ordnung einzusetzen, in der die Rechte der menschlichen Person im öffentlichen Leben besser geschützt sind.
Ebenso klar ist, dass man in konkreten ökonomischen und politischen Fragen innerhalb der Kirche zu unterschiedlichen Positionen kommen kann, da biblische und theologische Normen auslegungsbedürftig und Sach- und Fachkenntnisse der jeweiligen Lebensbereiche erforderlich sind, um zu differenzierten Urteilen zu kommen. Berechtigte Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge sind daher anzuerkennen. Es gibt demnach keine Deutungsmonopole. Dieses Bekenntnis zur Pluralität spiegelt sich in der Vielfalt gesellschaftspolitisch aktiver Institutionen – von der Caritas, der Katholischen Aktion, der Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände bis zur ksoe – wider und eröffnet in der Kirche Räume für politisch unterschiedlich denkende Gruppierungen. Dies ist eine Stärke, die unbedingt erhalten werden sollte. Denn nicht alle müssen und können alles und auf gleiche Weise tun. Spezifische Profile sind ein wertvolles Gut.
Allerdings gibt es auch ethische Grenzen und klare Optionen. Die Option für Privateigentum, das gemeinwohlpflichtig ist, oder die Option für marginalisierte und arme und von Armut bedrohte Gruppen sind so z.B. ebenso geboten wie Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Ausschluss und Stigmatisierung sozialer Gruppen verboten sind. In diesem Sinn sind die Konzilspositionen, die christliche Sozialethik und die Katholische Soziallehre weder „links“ noch „rechts“, sondern zuerst den biblisch und theologischen Grundlagen verpflichtet.
Feststeht ebenso, dass es in Österreich viele Katholikinnen und Katholiken gibt, auch innerhalb der politischen Parteien, die diese christlichen Grundlagen nicht oder nur einseitig kennen und eine sich politisch einmischende Kirche sogar ablehnen. Die Kritik einer „Kirche als Moralagentur“ (Hans Joas) steht im Raum, Gesinnungs- wird gegen Verantwortungsethik ausgespielt, Glaube wird auf eine Quelle indivdualethischen Handelns reduziert, ökonomisch oder politisch ethisches Handeln wird oft nicht als Teil einer christlichen Lebensweise wahrgenommen.
Empirische Studien zeigen, dass Personen mit katholischem Selbstverständnis autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen haben können und ihre Identität zur kulturellen Abgrenzung benützen (nicht zuletzt gegen Muslime). Die mehrfach beforschte Milieuverengung der österreichischen Kirche führt auch zu einer Dominanz politisch konservativer Einstellungen und mindert den Kontakt nicht zuletzt zu politisch anders „tickenden“ Milieus.
Hinzukommt die finanzielle Krise, die die wachsende Erosion der Gläubigenzahlen wie auch die Nachwuchsprobleme mit sich bringen. Die Finanzprobleme setzen nicht zuletzt die Bischöfe als leitende Verantwortliche massiv unter Druck, da sie verpflichtet sind, die Kirche auch in Zukunft handlungsfähig zu erhalten und daher finanziell verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen müssen.
Unausgetragene inhaltliche Konflikte werden in diesem Zusammenhang zum Problem. In diesem Licht kann man auch die aktuellen Debatten rund um die „Neuaufstellung“ der ksoe wahrnehmen.
Die ksoe als unverzichtbarer Player mit markantem Profil
Mit der ksoe leistet sich die Kirche einen Think-Tank und ein Kompetenzzentrum, das seit 60 Jahren gemäß ihres Auftrages die christliche Botschaft in kirchliche, aber auch außerkirchliche Zusammenhänge übersetzt. Ihren Sendungsauftrag zur „Erforschung und Verbreitung der katholischen Soziallehre sowie [der] Förderung ihrer Anwendung, um dem Gemeinwohl auf geistigem, kulturellem und sozialethischem Gebiet zu dienen“ hat sie auf markante, kreative und pointierte Weise umgesetzt. Für manche stellen ihre Positionen sicherlich eine Herausforderung dar, wird dabei auch unsere westliche, an Konsum, Wohlstandsmehrung und Wirtschaftswachstum orientierte Lebensweise kritisch hinterfragt. Aber gerade deshalb ist sie zu einem unverzichtbaren Player in einer pluralen Kirche und Gesellschaft geworden. Mit ihrer Interpretation der christlichen Sozialethik beteiligt sie sich an der ethischen Urteilsbildung in der Gesellschaft und bietet Orientierung und Dialogräume für Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen. Ihre sozialethische Bildungsarbeit und Beratung tragen dazu bei, Möglichkeiten und Strategien, gesellschaftliche Prozesse, politische und ökonomische Entscheidungen zu identifizieren, die auf die Förderung größerer gesellschaftlicher Gerechtigkeit zielen.
Konkret wird dies in zahlreichen Lehrgängen (Führungskräfteentwicklungsprogramme, Kompetenzförderung zur Übernahme sozialer Verantwortung, Solidarische Ökonomien, Organisationsentwicklung, politische Bildung), Publikationen und Vorträgen (z.B. der wöchentliche blog.ksoe.at). Zahlreiche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und Führungskräfte in Kirche und Gesellschaft greifen auf diese Angebote gerne zurück. Der katholische Sozialhirtenbrief (1990), das „Ökumenische Sozialwort“ (2003) und dessen Nachfolgeprozess „Sozialwort 10+“ sind unter federführender Beteiligung der ksoe entstanden. Sie war maßgeblich an der Gründung der „Allianz für den freien Sonntag in Österreich“ und des „Netzwerkes Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt“ beteiligt.
Und jetzt: „Neuaufstellung“
Die österreichischen Bischöfe wissen um den Wert dieser Institution. Sie erklären in ihrem Beschluss, dass sie die „Marke“ ksoe erhalten und deren Auftrag, „ein Kompetenzzentrums für die Katholische Soziallehre“ zu sein, „das die kirchliche Expertise in diesem Bereich zeitgemäß bündelt, vertieft und in einem ökumenisch offenen Dialog mit den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen umsetzt“, neu konzipieren sowie die Institution neu definieren und strukturell neu organisieren wollen. Dieser Wunsch nach Reform und Weiterentwicklung wurde auch von Seiten der ksoe immer wieder gewünscht, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Sicherung der finanziellen Zukunft. Das Kuratorium der ksoe hat deshalb auch ausdrücklich seine Bereitschaft erklärt, an diesem Umbau mitzuwirken. Themen wie Arbeitswelt, Unternehmensführung oder demokratische Diskurse sollen mit dem Hintergrund der Sozialethik weiter bearbeitet werden.
Gleichwohl wecken Begriffe wie „Neuaufstellung“ und die Perspektive, dass das langjährige Wirken aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beendet werden soll, Sorgen, Protest und Widerstand. Die Katholische Aktion, Pax Christi und andere kirchliche Teilorganisationen sowie zahlreiche (vielfach weibliche) Multiplikatorinnen der Kirche haben medial heftige Kritik geäußert. Nicht zuletzt das herausfordernde Profil der ksoe, das von vielen als „links“ wahrgenommen wird, wecke den Verdacht, dass hier die Freiheit politischer Meinungsbildung eingeschränkt werden und politischer Einfluss im Spiel sein könnte – ein Verdacht, den Paul Wuthe, Presse- und Medienreferent der Bischofskonferenz, zurückgewiesen hat. Hier gibt es sichtlich jede Menge Misstrauen und einen Mangel an Kommunikation.
Vor diesem Hintergrund möchte ich einige Gedanken beitragen, die hoffentlich die Kooperation stärken. Denn die Kirche braucht eine Institution wie die ksoe– und die ksoe braucht Bischöfe, die sie unterstützen.
Gedanken zur „Neuaufstellung“
1. Die Kirche benötigt einen freien und unabhängigen Think-Tank.
Die österreichische Kirche steht heute wie die Gesellschaft vor unzähligen Herausforderungen. Wir sind in Österreich schon lange „keine Insel der Seligen“ mehr, sondern globale Entwicklungen wie die ökologische Krise, der Umbau der Lebens- und Arbeitswelten durch die Digitalisierung und die Entstehung transhumanistischer Weltbilder, Flucht- und Migrationsbewegungen, kulturelle und religiöse Pluralisierung, politische Radikalisierungen, Erosion der Demokratie, populistische Strömungen, wachsender Konkurrenzdruck für österreichische Unternehmen im Kontext einer globalisierten Ökonomie und neue Armut konfrontieren auch die österreichische Demokratie, seinen bewährten Sozialstaat und das Leben der Einzelnen mit neuartigen Problemen. Diese bedrohen die Würde und Rechte des Einzelnen, das gesellschaftliche Gemeinwohl und den sozialen Zusammenhalt. Die Covid-19-Krise, mit der wir noch länger leben werden müssen, wird diese Probleme verschärfen. Die Neuaufstellung ist so eine gute Gelegenheit, sich in diesem Kontext zu reinterpretieren.
Auch die traditionelle Katholische Soziallehre und deren Grundbegriffe haben dafür keine unmittelbar fertigen Antworten. Inter- und transdisziplinäre wie auch theologisch fundierte Tiefenbohrungen mit Partnern aus Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur usw. zu einem angemessenen Verständnis dieser Herausforderungen sind das Gebot der Stunde. Nur differenziert und gut beraten sowie breit aufgestellt kann die Kirche in dieser Situation ihren gesellschaftspolitischen Ort und die damit verbundenen Aufgaben neu bestimmen.
Eine Institution, die sich solchen Grundlagenfragen stellt, braucht einen freien und unabhängigen Raum des Nachdenkens und die Möglichkeit, ohne Angst kritische Fragen zu stellen. Sie ist dabei ihrerseits auf den Dialog mit ihren inhaltlichen Kritikern angewiesen und muss bereit zur Selbstkritik sein. Wer neue Ideen entwickelt, wird dabei ebenso Fehler machen wie auch mit einer Zunahme von Konflikten zu rechnen ist. Wenn diese nicht die gesellschaftliche und politische Polarisierung und Frontenbildung verdoppeln sollen, können sie als Orte der Erkenntnis wahrgenommen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang einer „Neuaufstellung“ in einer Atmosphäre der Freiheit auch, dass dabei auf die Erfahrungen und Expertise der ksoe zurückgegriffen wird. Aus einer christlichen Perspektive bedeutet „Neuerung“ niemals den radikalen Bruch mit der Vergangenheit, sondern die Er–Neuerung der Tradition im Licht der Gegenwart.
2. Der gesellschaftspolitischen Botschaft des christlichen Glaubens wohnt seit biblischen Zeiten eine sperrige Seite inne.
Ein Think-Tank auf der Basis der christlichen Sozialethik wird immer auch zu Ergebnissen gelangen, die für Einzelne oder manche Teile der Gesellschaft schmerzhaft und unangenehm sind. Bereits die Genesis stellt mit ihrer Erzählung von der göttlichen Schöpfungsordnung den religiös-politischen Weltbildern der Antike, in der nur Pharaonen und Könige das Göttliche in der Welt repräsentierten, mit seiner Aussage vom Menschen als Ebenbild Gottes eine ebenso religiöse wie politische Kritik entgegen. Aus der Perspektive von Sklaven, Exilierten und verfolgten Diasporagemeinden in imperialen Großreichen verfasst, findet sich in der Heiligen Schrift neben Entwürfen gerechter Gesellschaftsordnungen eine lange Tradition der Kritik an Autoritäten, die das Leben von Menschen beschädigen. Unrechtstrukturen werden nicht religiös legitimiert, sondern aufgedeckt. Die biblische Botschaft stellt also nicht nur Sinnressourcen für ein tugendhaftes persönliches Leben im Glauben zur Verfügung, sondern hat seit jeher auch eine prophetische Dimension, in deren Zentrum die Forderung nach einer gerechten Gesellschaft mit einer besonderen Option für die Armen steht. Diese prophetische Dimension findet auch in der Christlichen Sozialethik ihren Niederschlag. Für die ksoe war und ist diese biblische Tradition ein zentraler Referenzpunkt. Dazu gehört z.B., die gesellschaftliche, politische und ökonomische Ordnung aus der Perspektive der Armen, Fremden und Marginalisierten zu befragen – ein Zugang, der auch für die Theologie von Papst Franziskus zentral ist. Kritik an zeitgenössischen Wirtschaftsordnungen oder politischer Praxis ist damit unvermeidbar.
Freilich sollte sich diese Kritik nicht pauschal gegen „die“ Wirtschaft richten oder sich im Gestus eines moralisch erhobenen Zeigefingers äußern, weil dies den Eindruck erwecken kann, es gäbe nur eine richtige Auslegung der christlichen Botschaft und der Soziallehre. Manche der Reaktionen von unternehmerischer und politischer Seite zeigen, dass dies der Fall sein dürfte. Darüber muss man reden.
Eine erneuerte ksoe könnte hier die Chance ergreifen, zu einer Dialogplattform zu werden, in der sich politisch und ökonomisch Andersdenkende konstruktiv austauschen und „streiten“, eine Art „katholischer Sozialpartnerschaft“. Das macht pointierte und herausfordernde Positionen gerade nicht überflüssig, muss aber auf der Ebene von Sprache und Kooperation in Signalen die Bereitschaft zur Inklusion zum Ausdruck bringen. Freilich müssen entsprechende Einladungen zum Gespräch dann auch von den Kritikern angenommen werden, was m. W. nach aber bisher nicht im möglichen Ausmaß der Fall war.
3. Eine erneuerte ksoe ist nicht „links“, hat aber die Verantwortung für die Armen im Fokus.
Die Wahrnehmung der ksoe als „linke“ Institution ist eine komplexe Angelegenheit. Zum einen sind viele Positionen, die als „links“ eingestuft werden, der prophetischen Dimension der Bibel ebenso geschuldet wie dem Ursprung der Katholischen Soziallehre in der „sozialen Frage“ des 19. Jahrhunderts, die auch das Elend der Arbeiter im Blick hatte. Wenn sich dann konkrete Vorschläge, wie das „Grundeinkommen“ mit Anliegen linker Parteien in Österreich decken, ist das ebenso legitim wie die Übereinstimmung anderer gesellschaftspolitischer kirchlicher Organisationen mit Vorschlägen „rechter“ Parteien. Überdies ist es mehr als befremdlich, dass sich in Österreich in den vergangenen Jahren diese „Labels“ – je nach Standpunkt – zu Schimpfworten entwickelt haben. Eine Demokratie lebt vom konstruktiven Diskurs beider Positionen. In Österreich gilt jedenfalls mittlerweile jemand, der die Armutsbekämpfung ins Zentrum stellt oder gar die Frage nach Besitz- und Eigentumsverhältnissen stellt, als „links“. Hier wäre auch eine Aufarbeitung der politischen Geschichte der Kirche notwendig. Abgesehen davon, dass sowohl Texte der Heiligen Schrift als auch die Katholische Soziallehre nicht nur von Almosen, sondern von Rechten der Armen sprechen (in der Antike ebenfalls eine Neuartigkeit), sind politisch links orientierte Katholikinnen und Katholiken innerhalb der Kirche mittlerweile ohnedies eine Seltenheit.
Die ksoe mit ihrer Schwerpunktsetzung kann hier einen Ort in der Kirche einnehmen, der auch öffentlich die Pluralität der Kirche erkennen lässt und einen Stachel im Fleisch einer tendenziell politisch eher konservativen Kirche (vgl. Österreichische Wertestudie) darstellt. Freilich sollte sie dabei nicht den Eindruck der Einseitigkeit erwecken oder Polarisierungen fördern. Aber ein farbloser Think-Tank wäre ein enormer Verlust und würde die Lebendigkeit der Debatten beeinträchtigen.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das „Mariazeller Manifest“ (1952), das von einer „freien Kirche in einer freien Gesellschaft“ spricht, die bereit ist „zur Zusammenarbeit mit allen Ständen, Klassen und Richtungen zur Durchsetzung des gemeinsamen Wohls; zur Zusammenarbeit mit allen Konfessionen auf der Grundlage des christlichen Glaubens an den lebendigen Gott; zur Zusammenarbeit mit allen Menschen, wer immer sie seien und wo immer sie stehen, die gewillt sind, mit der Kirche für den wahren Humanismus, für ´Freiheit und Würde des Menschen´ zu kämpfen.“ So gesehen, bedeutet die sog. „Äquidistanz“ der Kirche zu politischen Akteuren nicht gleichförmig neutralen Abstand zu den Parteien, sondern Nähe und Distanz zu diesen ergeben sich aus inhaltlichen, nicht zuletzt theologischen Gründen.
4. Kooperation ist das Gebot der Stunde.
Die Neuaufstellung der ksoe kann eine ausgezeichnete Gelegenheit werden, die Kultur der Kooperation in der Kirche und zwischen Kirche und Gesellschaft zu fördern. Diese Kooperation hat auch theologische Gründe, geht es doch um nicht mehr und nicht weniger, als im Sinn des Selbstverständnisses der Katholischen Kirche als Zeichen der Einheit in Vielfalt (Lumen Gentium) als eine Art „Role Model“ sichtbar zu machen und dazu beizutragen, dass Vielfalt nicht in ausgrenzendem Streit und Polarisierungen enden muss, sondern dass man auch über politisch weltanschauliche „Lager“ hinweg zusammenarbeiten kann. Das ist zwar alles andere als einfach, gehört aber zur Sendung der Kirche. Abgesehen davon gab es diese Tradition auch in der österreichischen Politik.
Neben der Kooperation zwischen den zuständigen Bischöfen Werner Freistetter, Josef Marketz und Hermann Gletter und der ksoe betrifft dies auch das An- und Weiterdenken möglicher neuer Kooperationen mit heterogenen Partnern aus Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft usw. Gaudium et Spes 44 hat die Angewiesenheit der Kirche auf die Expertise von Menschen unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis als notwendig erkannt, damit „die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann“.
So hat z.B. die Industriellenvereinigung eben 99 Thesen zur Zukunft entwickelt („überMorgen: Welche Gesellschaft wollen wir sein?“), die ebenso diskutiert werden können, wie die Beiträge zu „christlich-sozialen Signaturen“ der Politischen Akademie der ÖVP oder die politischen Konzeptionen von „linken“ kritischen Migrations- oder Sozialforscherinnen und -forschern. Nicht zuletzt hat die ksoe Zugang zu gesellschaftlichen Gruppierungen, die die Kirche aktuell nur mehr schwer erreicht. Vielfalt belebt auch hier das Geschäft und stärkt die Mission der Kirche.
Ein besonderes Augenmerk muss hier auch gesellschaftspolitisch engagierten jüngeren Frauen gelten. Die derzeitige Leiterin Magdalena Holztrattner repräsentiert kraft ihrer Kompetenz und inhaltlichen Orientierung diesen soziologischen Typus. Der Eindruck, den die Kooperation mit ihr erweckt, hat daher nebst persönlichen Aspekten hohen symbolischen Wert – nicht zuletzt auch für die Frauen in der Kirche.
Schließlich muss eine im gesellschaftlichen Ansehen geschwächte Kirche schon allein deshalb auf Kooperation setzen, weil sie sich – selbst wenn sie unter massivem finanziellen Druck steht – interne Entzweiung gar nicht leisten kann. Die Österreichische Wertestudie lässt hier mit Entwicklungen rechnen, die eine auch in sich selbst solidarische Kirche dringend notwendig macht.
5. Das christliche Profil stärken
Die Stärkung von Kooperation innerhalb und außerhalb der Kirche – vielleicht schon im Prozess der Reform – ist überdies auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, das Potential der kirchlichen Soziallehre als einem Instrument der Glaubensverkündigung (vgl. Johannes Paul II., Centesimus Annus 54) fruchtbar zu machen. Dazu wird es im Kontext einer säkularen Gesellschaft, in der viele Menschen die christliche Motivation gesellschaftspolitischen Engagement der Kirche gar nicht mehr (er)kennen, wichtig sein, theologische Grundlagen und christliches Profil explizit zu machen und für eine solche Gesellschaft zu übersetzen. Eine explizit theologische Redeweise gehört bisher weniger zum Kern-Profil der ksoe. Darin spiegelt sich freilich die Ausdifferenzierung und Spezialisierung einer Theologie, in der die biblischen, sozialethischen und systematischen Disziplinen eher neben- als miteinander arbeiten, ebenso wider wie die offene Frage, wie man die christliche Botschaft eines rettenden und erlösenden Gottes in einem säkularen Kontext ausdrücklich und anschlussfähig kommunizieren kann.
6. Die ksoe benötigt eine starke Leitung, die Pluralität und Teilhabe fördert
Die ksoe teilt ihre derzeitige föderale und synodale Organisationsstruktur mit vielen anderen kirchlichen Organisationen. Diese basiert nicht nur auf demokratischen, sondern vor allem auf theologischen Begründungen. Denn kraft der Taufe können und sollen alle Beteiligten einer kirchlichen Organisation etwas zu ihrer Gestaltung beitragen. Partizipation zu fördern ist ein genuin theologisches Prinzip. Immerhin lässt Gott selbst seine Gläubigen an der Gestaltung seiner Schöpfung mitwirken.
Solche Strukturen sind freilich mitunter langsamer und weniger effizient als rein hierarchische Strukturen. Aber sie fördern die Übernahme von persönlicher Verantwortung durch Beteiligte in Diözesen und kirchlichen Organisationen. Zugleich bedarf es in Zeiten finanziellen und gesellschaftlichen Druckes eine klare und transparente Leitungsstruktur, damit die Bischöfe ihrer Verantwortung nachkommen können. Aufgabe ist, diese synodale Chance mit einer effizienten Leitungsstruktur (und –kultur) zusammenzubringen.
Die zwischen theologischer und betriebswirtschaftlicher Logik auftauchenden Spannungen benötigen daher besonderer Aufmerksamkeit und Sensibilität im Reformprozess. Rein hierarchische Führungskonzepte können nicht unbesehen übernommen werden, aber Leitung benötigt auch entsprechenden Spielraum, um in schwierigen Zeiten handlungsfähig zu bleiben. Leitung bedeutet in einer pluralen Kirche und wahrhaft katholischen Kirche in jedem Fall klares, entschiedenes und transparentes Pluralitätsmanagement und die Förderung von Teilhabe.
7. Wer finanziert unbequeme Projekte?
Die Finanzen der ksoe sind ein zentraler Anlass zur Neuaufstellung und werden Thema bleiben. Nicht nur die ksoe, auch wissenschaftliche Projekte, die sich abseits der aktuell dominanten Kriterien für die Vergabe öffentlicher und privater Gelder tatsächlich innovativen Fragen und Themen widmen und damit notwendig unkonventionell denken, d.h. die jeweiligen Ordnungsrahmen kritisch befragen, haben derzeit massive Probleme, das dafür notwendige Geld aufzutreiben. (Auch die Theologie leidet darunter.) Querdenken ist riskant, kann scheitern – und das kann teuer kommen. Anpassung kann hier nicht die Lösung sein. Nicht nur die ksoe, die ganze Kirche wird hier viel Phantasie und Kooperationspartner benötigen, um die jeweiligen Geldgeber davon zu überzeugen, dass auch zunächst unbequem scheinende religiöse und sozialpolitische Themen die Gesellschaft mittelfristig bereichern können.
8. Die Verantwortung für die aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernehmen
Auch wenn der Zeitraum der Dienstauflösungen längerfristig anberaumt ist und ein Sozialplan entwickelt wird: Für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Auflösung der „alten“ ksoe schmerzhaft und kann als Mangel an Wertschätzung der bisherigen Arbeit wahrgenommen werden. Ich gehe davon aus, dass die verantwortlichen Akteure sich dieser Tatsache bewusst sind und im „Neuaufstellungsprozess“ Wege und Mittel finden, dem teilweise langjährigen Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wort und Tat gerecht zu werden.
Ich hoffe, dass die ksoe aus dem anstehenden Prozess gestärkt hervorgehen und ihren Aufgaben im Licht der Zeichen der Zeit in Kirche und Gesellschaft besser und fundierter nachkommen kann und wird. Soweit ich es sehe, gibt es dazu von allen Seiten die Bereitschaft. Offenheit, wechselseitiges Zuhören, ein angstfreies Klima und die Suche nach dritten Optionen, die die Konflikte produktiv lösen, sind gefragt. Und wer diesen Prozess unterstützen möchte, sollte sich offensiv und mit guten Ideen einbringen.
Über die Autorin
Regina Polak ist Institutsleiterin und Assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und derzeit Personal Representative of the OSCE Chairperson-in-Office on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions.
Dieser Blogbeitrag wurde bereits veröffentlicht unter: https://theocare.wordpress.com/2020/07/09/