|
Aufruf zur »heiligen« Ökonomik
Buchbesprechung zu Christian Felbers »This is not economy«
Verfasst am 24. September 2020
Zur Revolution der Wirtschaftswissenschaften möchte Christian Felber mit »This is not economy« aufrufen. Er bezieht sich dabei auf die Mainstream-Ökonomik: Damit sind das ökonomische Denken (Theorien, Konzepte usw.) und die praktizierten Methoden gemeint, die das Bild über die Wissenschaft von der Wirtschaft – die Ökonomik – in Zeitungen, in der Bildung und in der Forschung prägen. Warum Felber – der sich in seinem Buch als Wissenschaftsjournalist versteht (S. 11) – eine Revolution für nötig hält, das legt er ausführlich in vier (von fünf) Kapiteln seines ca. 303 Seiten umfassenden Buches dar. Der (vermeintlich) neoklassische Mainstream der Ökonomik sei, so die Kritik, zum Beispiel: positivistisch, weltfremd (»Realitätszölibat«), lediglich vermeintlich ›wertneutral‹ und habe in diesem Selbstverständnis ethische Gesichtspunkte aus der wirtschaftlichen Betrachtung verbannt, außerdem die eigene Herkunft, die Bedeutung des Namens (Ökonomie) und Ziele des Wirtschaftens vergessen oder verdrängt. Die Mainstream-Ökonomik verfüge über keine Definition des eigenen Gegenstands (Wirtschaft) und sei zu stark auf Mathematik und Modellierung fixiert. Mittels ökonomischer Lehrbücher würden den Studierenden bestimmte Werthaltungen und »Frames« »eingepflanzt« (S. 73), so dass diese gegen anderslautende Fakten immunisiert seien (z.B. hinsichtlich positiver oder nicht negativer Wirkungen von Mindestlöhnen).
Das klingt unglaublich? Sicher, aber Felber untermauert dies mit Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen (Psychologie, Verhaltensökonomik u.a.) und der modernen Pluralismus-Forschung, die es zur Ökonomik gibt. Er stützt sich auch auf Texte von Ökonom:innen abseits der Mainstream-Ökonomik sowie auf einzelne Interviews, die er mit ihnen führte. Es werden erkenntnistheoretische Aspekte erläutert sowie Forschungserkenntnisse zu Netzwerken (Thinktanks wie Mont Pèlerin Society usw.) angeführt, kraft der – entgegen dem Narrativ einer integren und funktionierenden Wissenschaft – die Dominanz der Mainstream-Ökonomik teilweise erklärt werden kann. Ausführlich geht Felber u.a. auf den von der Schwedischen Reichsbank gestifteten »Wirtschaftsnobelpreis« ein (S. 165-185), aber auch auf die ökonomische Annahme eines natürlichen und wohlfahrtsförderlichen Wettbewerbs (S. 216-223) und den Inhalt und das Wirken ökonomischer Lehrbücher (S. 105-122). Die Leserinnen und Leser werden von Felber aber nicht mit seiner massiven Kritik an der Mainstream-ÖKonomik alleine gelassen. Nein, ein fünftes Kapitel widmet sich den Alternativen zur Mainstream-Ökonomik. Dort geht er auf die durch Studierende getragene Pluralismus-Bewegung ein (Netzwerk Plurale Ökonomik u.a.), weist auf alternative Hochschulen und Lehrbüchern hin und stellt am Ende seine Anforderungen an eine ganzheitliche (»heilige«) Ökonomik vor.
Das alles ist kompakt, informativ und flott lesbar geschrieben. Sicher, es gibt ein paar kleine formale Unachtsamkeiten, z. B. der Umstand, dass die Autorin Henrike Sander falsch geschrieben wurde, oder dass sich die Jahresangabe eines Fachartikels von Rüdiger Bachmann im Text von der im Literaturverzeichnis unterscheidet (S. 133/278). Aber das sind alles Kleinigkeiten. Einzig die vielen Endnoten, die sich überwiegend auf jeweils einen Literaturhinweis beschränken, stören den Lesefluss. Also alles in Allem ein gutes Buch?
So einfach ist es leider nicht. Das fängt schon beim Titel an, in dem die Wirtschaft (economy) adressiert wird, obwohl sich Felber an den ›mainstream economics‹ abarbeitet. Vor allem für den Diskurs ist es außerdem problematisch, die Kritik an die »neoklassische« Mainstream-Ökonomik zu richten, wo es richtiger wäre, vom »neoklassisch« geprägten Mainstream zu schreiben, der zwar die Denkschule der »Neoklassik« beinhaltet (z.B. in Lehrbüchern), aber in der Lehre und Forschung darüber hinausgehende Strömungen umfassen kann.
Ferner stellt sich die Frage, warum Felber sich einer deutlich religiös konnotierten Sprache bedient (»Ökumene der Ökonomik«, »heilige Wirtschaftswissenschaft«, »Heilung« usw.), wenn er sie für missverständlich genug hält, um sich von der religiösen Konnotation dieser Begriffe zu distanzieren bzw. sie inhaltlich umzudeuten (»heilig« als »ganzheitlich«, S. 275).
Außerdem: Wie passt es zur Forderung einer »gewaltfreien Kommunikation«, wenn Felber zwar völlig zu Recht die Ausgrenzung von »non-economists« durch die Mainstream-Ökonom:innen kritisiert, gleichzeitig aber Mainstream-Ökonom:innen mit dem Begriff »Chrematisten« einer Abwertung aussetzt, die darauf abzielt, sie aus dem Verständnis einer »echten« Ökonomik zu drängen. Das mag im ersten Moment eine ironische Retourkutsche dafür sein, dass Mainstream-Ökonom:innen alternative (heterodoxe) Ökonom:innen als »non-economics« (S. 196) ausgrenzen. Im Kern – und darin liegt der hier zu kritisierende Punkt – bedient sich Felber damit aber genau der gleichen Ausgrenzungsstrategie, die er unter anderem Vorzeichen bei Mainstream-Ökonom:innen kritisiert. Vor dem Hintergrund sollte auch berücksichtigt werden, dass Felber bei den Mainstream-Ökonom:innen einen pathologischen Narzissmus diagnostiziert, der mit mangelnder Selbstkenntnis, schwachem Selbstwertgefühl, Minderwertigkeitskomplexen, Prahlen usw. einherginge. (S. 136-137) Das ist deshalb ein Problem, weil Felber davon ausgeht, dass es nicht unbedingt ein Bewusstsein für die von ihm kritisierten neoklassischen Werthaltungen und Frames gibt: Denn diese Werthaltungen und Frames seien den Studierenden und zukünftigen Ökonom:innen über Lehrbücher »eingepflanzt« worden (S. 73). Wie fair ist dann also der Ton, den Felber hier anschlägt? Wo bleibt die »Sympathie« bzw. Empathie, die Felber in seiner Kritik an der Mainstream-Ökonomik einfordert?
Weiterhin fällt auf, dass Felber – ebenfalls zu Recht – die (Über-) Mathematisierung des Mainstreams kritisiert, aber die der heterodoxen Ökonomiken – die Felber gegen die Mainstream-Ökonomik anführt (Steve Keen, Komplexitätsökonomik, Postkeynesianismus usw.) – nicht einmal kritisch erwähnt. Warum erfahren die Leserinnen und Leser nicht, dass auch in der etablierten heterodoxen Ökonomik mathematisch-formale Modellierungskulturen dominieren und dort die sozial- und geisteswissenschaftlichen Ansätze unterrepräsentiert sind?
Wie passt es zur berechtigten Kritik am Positivismus des ökonomischen Mainstreams (teils untermauert mit relativistischen Argumenten), dass dem Mainstream aber ebenfalls positivistisch die ›wahre‹ ›Realität‹ in Form von empirischen Studien vorgehalten wird?
Und wie kommt Felber zu Behauptungen wie: »Kaum jemand hat ein tieferes Verständnis, was das BIP genau aussagt oder wie es berechnet wird.« (S. 179) In diesem Fall zeigt sich – ganz im Gegensatz zu dieser Behauptung –, dass es zum volkswirtschaftlichen Grundlagenwissen (konkreter: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung) gehört, das BIP als Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsrechnung darzustellen.
Bereits die hier nur kursorisch zusammengetragenen Punkte lassen eine gewisse Ernüchterung einkehren über ein Buch, das durchaus berechtigtes Interesse wecken dürfte: Denn es bietet einen Überblick über die wesentlichen Kritikpunkte an der Mainstream-Ökonomik, relevante (aktuelle) Literatur und Studien sowie die Entwicklung und das Feld der Pluralen Ökonomik. Deshalb ist es ausgesprochen schade, dass das Buch Anlass zu vielen Fragezeichen gibt und eigentlich einer kritischen Kommentierung bedarf. Am Ende überwiegt das ungute Gefühl, dass Felber damit der Pluralen Ökonomik – aber auch seinem eigenen Anliegen – einen Bärendienst erwiesen hat. Leider!
Über den Autor
Sebastian Thieme, Diplom-Volkswirt, vertrat in den WS 2018/2019 & 2019/2020 Professuren an der Hochschule Harz, war erster Schasching-Fellow der Katholischen Sozialakademie Österreichs, war in verschiedenen Projekten zur Pluralität in der Ökonomik tätig und arbeitet zu Themen u.a. der Pluralen Ökonomik, Sozialökonomik, »Subsistenz«, ökonomische Misanthropie und Wirtschaftsethik.
Kontakt: http://economicethics.blogspot.com