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Römischer Ethik-Codex zu künstlicher Intelligenz
Verfasst am 22. Oktober 2020
Ende Februar d. J. hatte die Päpstliche Akademie für das Leben zu einem mit mehreren hundert VertreterInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hochkarätig besetzten Workshop zu Ethik und Künstliche Intelligenz (KI) eingeladen. Die mediale Rezeption dieses Meetings und seines Ergebnisses, die Veröffentlichung des „Rome Call for AI Ethics“, blieb am „Vorabend“ der Ankunft der Corona-Pandemie in Europa bedauerlicher Weise und unverdienter Maßen enden wollend.
Weltweite Bewegung für KI-Ethik
Nun ist der römische Ethik-Codex zu KI keineswegs der erste seiner Art. Es gibt bereits eine Vielzahl derartiger Versuche, die ethischen Herausforderungen in der Entwicklung und Anwendung von KI aufzulisten; ein Großteil davon unterscheidet sich in nicht viel mehr als der Reihenfolge der dafür substantiellen Grundwerte-Trias „Freiheit, Transparenz und Gemeinwohl“. Die Bedeutung des vatikanischen KI-Ethik-Codex‘ liegt eher im Anliegen, die zahlreichen Einzelbemühungen auf nationaler oder Unternehmens-Ebene zusammenzuführen und so eine gemeinsame weltweite Bewegung für einen verantwortungsvollen Umgang mit der machtvollen KI zu forcieren. Denn mehr als deutlich zeichnet sich bereits das internationale Problem ab, dass zahllose Einzelakteure (d.h. Staaten oder transnationale Konzerne) versuchen, eine Führerschaft in Sachen KI zu erlangen – sei es für wissenschaftliche, ökonomische oder militärische Zwecke und natürlich zu Lasten der genannten Grundwerte (zumindest in ihrer Geltung für die Konkurrenz bzw. externe Stakeholder).
Mensch und Umwelt im Fokus
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das mit 4-5 Seiten nicht allzu umfangreich ausgefallene Abschluss-Dokument des internationalen Workshops bis in die Begrifflichkeiten hinein mehr oder weniger deutlich die Handschrift des gegenwärtigen Pontifikats trägt. Einige Passagen muten wie eine Übersetzung der Schöpfungsenzyklika „Laudato sí“ (2015) in den Kontext des KI-Diskurses an: Bereits in der Einleitung wird klar festgehalten, dass Entwicklung und Einsatz der KI-Technologie nicht um ihrer selbst willen vorangetrieben werde dürfen, sondern stets auf das Wohl von Menschheit – gemeint sind hiermit stets in gleicher Weise die Menschheitsfamilie als ganze als auch jeder einzelne Mensch, insbesondere die Schwächeren und Benachteiligten – und natürlicher Umwelt, „unseres gemeinsamen und geteilten Zuhauses“[1], hingeordnet sein müssen. Als handlungsleitend muss sich eine Vision durchsetzen, „in der Mensch und Natur im Mittelpunkt der Entwicklung digitaler Innovationen stehen, die eher unterstützt als schrittweise durch Technologien ersetzt werden, die sich wie rationale Akteure verhalten, aber in keiner Weise menschlich sind“. In der jedenfalls technologischeren Zukunft, der diese Welt unaufhaltsam entgegengeht, muss der Mensch jederzeit und auf allen Gebieten seine (moralische) Subjektstellung wahren und wahrnehmen, aber auch stets in der Lage sein, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Bereits aus dieser unbedingten Erfordernis folgen wesentliche Leitlinien des vorliegenden Codex‘.
Grundlage für die in diesem Codex entwickelten knappen Eckpunkte einer digitalen Ethik bildet die in der Universalen Deklaration der Menschenrechte festgehaltene, allen Menschen in gleicher Weise zukommende Freiheit und unantastbare Würde. Daraus ergibt sich unmittelbar die ethische Forderung jeglichen Diskriminierungsverbots bei Entwicklung und Einsatz von KI. Auf demselben Werte-Fundament aufbauend und um das Nachhaltigkeitsprinzip ergänzt, darf KI-basierte Technologie „niemals dazu verwendet werden, Menschen in irgendeiner Weise auszunutzen, insbesondere diejenigen, die am anfälligsten sind. Stattdessen muss sie verwendet werden, um Menschen dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln (Empowerment / Enablement) und den Planeten zu unterstützen“.
Bildung
Ganz auf einer Linie mit Pp. Franziskus‘ Sozialrundschreiben „Laudato sí“ liegt auch die auffallende Tatsache, dass das vorliegende römische Dokument dem Thema einer umfassenden Bildung zur KI-Nutzung zentralen Stellenwert einräumt. Das betrifft freilich nicht nur die Erstellung entsprechender Lehrpläne für die jüngeren Generationen, die sich wiederum nicht nur auf eine rein digitale Kompetenzerweiterung beschränken dürfen; ganzheitliche KI-Bildung muss Menschen befähigen, über den unmittelbaren (ökonomischen) Nutzen hinaus persönliche, soziale und kulturelle Implikationen des KI-Einsatzes kritisch zu beurteilen und (mit) zu gestalten. Das Dokument betont, dass im Zuge des technologischen Fortschritts grundsätzlich niemand zurückgelassen und abgehängt werden darf: weder ältere Generationen noch bildungsfernere Schichten noch Menschen mit physischen oder psychischen Handicaps. Gerade für die zuletzt genannte Gruppe könnte KI sogar ein enormes Potential zur Steigerung ihrer Unabhängigkeit und zugleich sozialen Integration entfalten. Grundsätzlich gilt dabei: „Inklusive Bildung bedeutet … auch, KI zu verwenden, um jeden Einzelnen zu unterstützen und zu integrieren, und Hilfe und Möglichkeiten für soziale Teilhabe anzubieten“. Hauptziel einer ganzheitlichen KI-Bildung ist, „das Bewusstsein für die Chancen und auch die möglichen kritischen Probleme der KI aus der Perspektive der sozialen Eingliederung und des individuellen Respekts zu schärfen“.
Grundsätze und Vorschriften
Das römische Dokument ist schließlich realistisch genug, eine weltweite KI-Ethik nicht allein auf der Ebene moralischer Gesinnungsappelle, individueller Gewissensentscheidungen und freiwilliger Commitments anzusiedeln. Für eine „Entwicklung der KI im Dienste der Menschheit und des Planeten“ ist das ethische Engagement aller beteiligten Stakeholder zu ermöglichen und sicherzustellen; dafür wiederum „sind Werte, Grundsätze und in einigen Fällen gesetzliche Vorschriften unabdingbar, um diesen Prozess zu unterstützen, zu strukturieren und zu leiten“. Weiters muss die KI-Entwicklung von „robusten digitalen Sicherheitsmaßnahmen“ begleitet sein, damit sie nicht zur Gefahr für die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung des internationalen Friedens wird, sondern diesem vielmehr dient. Zum Schutz grundlegender Menschenrechte erwägt das Dokument weiters eine „Erklärungspflicht“ für KI-Systeme mit dem Zweck, allen Betroffenen „nicht nur die Entscheidungskriterien von KI-basierten algorithmischen Agenten verständlich zu machen, sondern auch deren Zweck und Ziele. … Dies erhöht die Transparenz, Rückverfolgbarkeit und Verantwortung und macht den computergestützten Entscheidungsprozess valider.“
Internationale Zusammenarbeit
Das römische Dokument schließt mit einem Appell zur internationalen Konsensfindung über eine allgemein verbindliche „Algor-Ethik“ unter Einbindung von „politischen Entscheidungsträgern, UN-Systemagenturen und anderen zwischenstaatlichen Organisationen, Forschern, der akademischen Welt und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen“ und fasst dafür die wichtigsten Grundsätze „guter Innovation“ zusammen, auf die sich der vorangegangene Workshop geeinigt hat:
- Transparenz und Erklärbarkeit aller KI-Systeme
- Inklusion unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Menschen
- Verantwortung und Transparenz sowie
- Unparteilichkeit und Vorurteilsfreiheit auf Seiten jener, die KI entwerfen und einsetzen, um Fairness und Menschenwürde zu gewährleisten
- Umfassende Zuverlässigkeitstests und -garantien von KI-Systemen vor ihrem Einsatz
- Sicherheit und Schutz der Privatsphäre, v.a. aller personenbezogenen Daten
[1] Dieses und weitere jeweils kursiv gesetzte Zitate aus dem Dokument beruhen auf Übersetzungen des Autors aus dem englischsprachigen Original-Text.
Über den Autor
Markus Schlagnitweit, Theologe, Sozial- & Wirtschaftsethiker,
korrespondierendes Mitglied der ksoe