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Geschwisterlichkeit
Eine Haltung, die die Welt verändern kann
Verfasst am 3. November 2020
Angesichts der aktuellen Geschehnisse in Wien erhält Papst Franziskus` Mahnung, wir seien alle Geschwister („fratelli tutti“), eine ganz neue Brisanz. Gerade jetzt ist es wichtig, sich daran zu erinnern. Hass ist niemals gerechtfertigt, ebenso wenig aber Vorverurteilungen und die pauschale Inhaftnahme ganzer Bevölkerungsgruppen für die unentschuldbaren Verbrechen Einzelner. Wir müssen einander mit Verständnis, Mitgefühl und ohne Vorurteile begegnen. Der nachfolgende Blogbeitrag von Magdalena Holztrattner zur Enzyklika „Fratelli tutti“ wurde noch vor den Anschlägen in Wien geschrieben. Mit der Veröffentlichung jetzt möchten wir ein Zeichen für Zusammenhalt, Versöhnung und Frieden setzen.
Geschwisterlichkeit: Eine Haltung, die die Welt verändern kann
„Die Begegnung mit den Menschen führt zur Begegnung mit Gott“, wird als eine Aussage des Heiligen Franz von Assisi von vor rund 800 Jahren überliefert. Wie aber leben wir Beziehungen zwischen Menschen? Und wie wirken sich diese Beziehungen auf Lebensbereiche wie z.B. Wirtschaft, Politik, Umgang mit Schutzsuchenden oder Dialogfähigkeit aus?
Der Bischof von Rom, Papst Franziskus, verweist in seiner ersten Sozialenzyklika „Laudato sí“ (2015) wie mit einem musikalischen Leitmotiv immer wieder darauf, dass „alles mit allem verbunden“ ist. Dabei meint er die Verbindung aller Lebewesen, also der Menschen untereinander, aber auch der Menschen mit den Tieren, Pflanzen und der ganzen Schöpfung, der Mutter Erde.
In seiner jüngsten, zweiten Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ (FT, 2020) ist seine alles begleitende Basslinie die Aussage „Wir alle sind Geschwister“ – und als solche füreinander verantwortlich. Die Geschwisterlichkeit, die Papst Franziskus meint, ist biblisch begründet. Ganz am Beginn der biblischen Erzählungen steht eine Geschichte, in der Gott Kain nach seinem Bruder fragt. Die Frage „Kain, wo ist dein Bruder?“ (Gen 4,9) holt den Sohn Evas und Adams aus dem Versteck, in das er sich geflüchtet hat, nachdem er seinen Bruder Abel aus Neid und Missgunst brutal erschlagen hat. Dem/der Gott der Bibel ist es nicht egal, was Menschen mit ihren Geschwistern machen. Als Geschöpfe stehen wir alle in einer Beziehung, die durch den Glauben an diesen Gott als Schöpferin alles Lebendigen begründet ist.
Die Haltung, dass alle miteinander verbunden und daher auch füreinander verantwortlich sind, ist für gläubige Menschen – egal welcher Religion – eine zentrale Aussage. Sie ist sogar für AtheistInnen und HumanistInnen relevant – wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bezeugen, auf die Papst Franziskus auch in „Fratelli tutti“ wiederholt verweist.
Was gehen mich die anderen an?
Wenn wir nun Gottes Frage am biblischen Anfang aktualisieren, kann das so klingen: „Christoph, wo ist Dein Bruder?“ Wo ist Dein Bruder, wenn wir auf Moría schauen, als Beispiel dafür, wie das reiche Europa, das gesättigte Österreich mit Menschen umgeht, die fliehen vor Krieg, Ausbeutung, Vergewaltigung und Hunger. Wie beantwortest Du die dringende Frage dieser Menschen, die Dich als Bruder um Hilfe anflehen?
Die biblische Frage könnte aber auch so klingen: „Rita, wo ist Deine Schwester?“ Wo ist Deine Schwester, wenn wir auf die SystemerhalterInnen schauen, die im Lockdown beklatscht worden sind, aber weiterhin unter teilweise beschämenden Arbeitsbedingungen leiden – im Supermarkt, bei der Reinigung, als ErntehelferInnen oder als 24-Stunden-PflegerInnen. Wie beantwortest Du die strukturelle Frage dieser Menschen, die Dich als Schwester mit „dem richtigen“ Pass, Demonstrations- und Wahlrecht brauchen?
Eine oft gehörte Antwort auf diese Frage – auch diese steht schon in der Bibel – ist die schulterzuckende Aussage „Was geht mich das an?“, „Ich kann mich doch nicht um alle kümmern!“, „Wien den Wienern!“, „Wir können doch nicht alle aufnehmen!“, „Wenn wir ein paar Kinder aufnehmen, dann werden wir wieder von einer Flüchtlingswelle überschwemmt!“ Ja, die Frage ist berechtigt: Was gehen mich die Anderen an? Gehen mich die Anderen überhaupt was an?
Papst Franziskus verweist darauf, dass wir alle Geschwister sind. Als Menschen – als Kinder des einen Gottes der vielen Namen, als Geschwister unseres Bruders Jesus aus Nazareth. In der Enzyklika „Fratelli tutti“ = „Wir sind alle Geschwister“ spricht Franziskus von Rom von der „universalen Geschwisterlichkeit“ (FT 9) und der „sozialen Freundschaft“ (FT 2). Klar, da meint er keine biologisch, eng gedachte Geschwisterlichkeit oder eine biographisch begründete Freundschaft. Er meint eine Geschwisterlichkeit, wie wir sie (ohne diese zu idealisieren!) aus afrikanischen und lateinamerikanisch-indigenen Kulturen kennen, wo die geschwisterliche Verbundenheit eine Haltung ist, eine Einstellung, die den Blick aufs Leben prägt.
Moderne Haltungen sind selten geschwisterlich
Es ist die Haltung der Geschwisterlichkeit, die – im sozialen und universalen Sinn – z.B. in einem starken Sozialstaat gelebt wird: Wir stehen füreinander ein, auch wenn wir uns nicht kennen. Wenn alle Steuern zahlen, können auch jene eine gute Gesundheitsversorgung erhalten, die z.B. aufgrund einer Behinderung nicht selbst dafür sorgen können. Wenn Sozialgesetze auch jene fürsorgend berücksichtigen, denen das Leben mit persönlichen Krisen schlimm zugesetzt hat, dann führt z.B. Arbeitslosigkeit – etwa nach einer Scheidung und daraus folgenden psychischen Krisen – nicht ins direkte Elend.
Die Haltung der Geschwisterlichkeit denkt aber auch über Raum und Zeit hinaus. Dann werden, wie es Papst Franziskus auch benennt, die Konsequenzen eines überbordenden, ressourcenfressenden Lebens- und Produktionsstils bedacht, dann werden vermeidbare Reisen mit Autos oder Flugzeugen hoch besteuert – um die gute Luft, ein erträgliches Klima und unsere schöne Fauna und Flora auch für die nächste und übernächste Generation zu erhalten.
Die gängige, auch Politik und Wirtschaft orientierende Philosophie ist derzeit aber weniger die der geschwisterlichen Kooperation, sondern eher die der feindlichen Konkurrenz. „Ich bin meines eigenen Glückes Schmied“ ist ebenso ein Slogan wie die Aussage, dass „ich mir alles selbst erarbeitet habe“. Individualismus und damit verbundene Isolation blenden aus, dass wir alle voneinander abhängig sind; dass wir alle kulturell, technisch und demokratisch „auf den Schultern unserer Vorfahren stehen“; dass wir alle am Lebensanfang und – hoffentlich auch – am Lebensende von Menschen gepflegt werden. Diese Haltung des Individualismus‘ verbannt das Wissen aus dem Bewusstsein, dass die allerwenigsten von uns selbst geschneiderte Kleidung aus selbst gewebten Stoffen tragen oder nur jene Lebensmittel essen können, die sie selbst gezogen – und vielleicht auch geschlachtet – haben.
Als Menschen sind wir bedürftig, voneinander abhängig. Wir brauchen einander in unserer hoch spezialisierten und hoch arbeitsteiligen Gesellschaft.
Wachsende Populismen und die Grenzen betonenden Nationalismen, die der Papst in seinem Schreiben benennt, verneinen diese gegenseitige Verbundenheit (FT 155ff). Das „Mia san mia!“ bezieht sich auf eine kleine Gruppe, die bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. „Andere“, die von dieser Gruppe als solche definiert werden, werden ausgeschlossen, abgewertet, ja – in Moría und anderen Orten – „im Dreck liegen gelassen“.
Wem erweise ich mich als Nächste/r?
Wieso sollen sich ChristInnen den Anderen, ja sogar Fremden zuwenden?
Der Bischof von Rom bringt am Beginn der Enzyklika einen richtungsweisenden Text des Zweiten (Neuen) Testaments: die Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Lk 10, 25-37). Nachdem seine Glaubensbrüder und Landsmänner an einem im Dreck Liegenden vorübergehen, erbarmt sich ein Samariter seiner. Ihn verbindet mit dem Geschlagenen weder die gleiche Volkszugehörigkeit noch die gleiche Religion. Ihn verbindet nur, dass der Andere Mensch ist wie er selbst. Die mehrfach getretene Menschenwürde des Liegengelassenen berührt diesen fremden Mann zuinnerst. Wie es diesem Menschenbruder geht, der da im Straßengraben liegen gelassen worden ist, lässt den Ausländer nicht kalt. Die Frage „Wer ist mein Nächster?“ beantwortet Jesus nicht mit der Aufzählung von Menschen oder Gruppen, um die man sich dann streiten kann, wie sehr oder wie wenig diese „zu mir“ oder „zu uns“ gehören. Jesus beantwortet die Frage mit der Gegenfrage: „Wem erweist Du Dich als Nächste/r?“ (Lk 10, 36). Es geht ihm um die Haltung der Geschwisterlichkeit. Darum, im Anderen den Menschen zu sehen, die Schwester oder den Bruder. Darum, als ChristInnen im Leidenden, in der Vergewaltigten, im Ausgebeuteten und in der strukturell Benachteiligten – in den Geringsten unserer Geschwister – den Bruder Jesus zu sehen (Mt 25,40) und aus dieser Verbindung, aus dieser „universalen Geschwisterlichkeit“ oder „sozialen Freundschaft“ heraus dem anderen Menschen zu helfen und in der Not beizustehen.
Wer sich aus der Haltung der Geschwisterlichkeit der Fragen der Menschheit annimmt, wird sich gegen Rassismus einsetzen, wird dem Fremdenhass einen Riegel vorschieben, wird sich gegen eine „Welt der Mauern“ (FT 27) einsetzen, wird Kriege vermeiden und gegen politische Abwertung, wirtschaftliche Ausbeutung und religiöse Diffamierung die Stimme erheben.
Einsatz für universale Geschwisterlichkeit
Welche Konsequenzen zieht Franziskus von Rom nun aus diesen Überlegungen?
Um gemeinsam eine bessere Welt zu gestalten – ja, das ist sein Anspruch! – verweist der Papst darauf, der Oberflächlichkeit des Wegschauens und Wegwerfens abzuschwören und sich am Guten zu orientieren: bene-volentia als Haltung, im Anderen/in der Anderen prinzipiell das Gute zu sehen und zu fördern (FT 112).
In konkreten Strukturen verweist er auf die Grundaufgabe der Politik, das Gemeinwohl zu fördern: also nicht die Menschen je „Gnade“ oder „Pech der Geburt“ ihrem Schicksal und dadurch den Kräften des Stärkeren zu überlassen, sondern über einen Sozialstaat und eine starke Zivilgesellschaft die Interessen der finanziell Mächtigen einzudämmen (FT 172) und die Rechte der Minderheiten und Schwächeren zu sichern; sich für die dialogische Lösung von Konflikten einzusetzen – anstatt Unsummen für Waffenproduktion und Kriege zu verschwenden (FT 29, 172); sich für die Begrenzung der spekulativen Finanzwirtschaft einzusetzen – damit nicht weiter Lebensmittel in skandalösen Dimensionen vernichtet werden, während andere Menschen hungern ( FT 189); sich für die Herrschaft der Politik über den (freien) Markt einzusetzen – damit die Ausbeutung und Ausgrenzung von Menschen diese nicht noch abhängiger und verletzbar machen (FT 12).
Papst Franziskus fordert, die „kleinen“, die „alten“ und auch die indigenen Kulturen zu schätzen – und sie nicht einer einzigen Dominanzkultur (der „westlichen“ Werte) unterzuordnen und dadurch ihrer Identität zu berauben. Er fordert, die Sozialpflichtigkeit des Privateigentums – eine alte sozialethische Forderung der Kirche – wieder stärker zu leben und nicht Menschen, Lebewesen, Böden und Ressourcen verantwortungslos auszubeuten (FT 124).
Er ermutigt zu einer Gesellschaft der „offenen Herzen“ (FT 128), die Flüchtenden Hilfe vor Ort gewährt, damit sie nicht ihre Heimat verlassen müssen, die sie aber auch in den Empfängerländern aufnimmt, schützt, fördert und integriert (FT 129) – als Menschen, die andere nicht bedrohen, sondern sie und ihre Kultur bereichern. Dafür, so Franziskus, ist es nötig, die Asylverfahren fairer und schneller zu gestalten, Arbeit zu ermöglichen, Familienzusammenführungen zu erleichtern und jenen, die schon länger im Land sind, durch den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft auch die Möglichkeit zu geben, dieses Land und seine Gesellschaft aktiv mitzugestalten (FT 130f).
Haltungen, die diese Zugänge fördern, sind die dialogische und wahrhaftige Suche nach Wahrheit, die Orientierung am Gemeinwohl, die Suche nach Frieden, der nicht gleichmacht, sondern die Probleme benennt (FT 228), dem Verzeihen Raum gibt (FT 236ff) und eine kritische Erinnerung aushält (FT 250).
Schließlich verweist das Oberhaupt der Katholischen Kirche auf den Wert der Geschwisterlichkeit unter den Religionen. In der gemeinsamen Erklärung mit dem Groß-Imam der ägyptischen Al-Azhar-Universität, Ahmad Al-Tayyeb, unterstreichen beide, dass „die Hauptursachen für die Krise der modernen Welt ein betäubtes menschliches Gewissen und eine Entfremdung von religiösen Werten sowie die Dominanz von Individualismus und materialistischen Philosophien sind, die den Menschen vergöttlichen und weltliche wie auch materielle Werte an die Stelle der höchsten und transzendenten Prinzipien setzen“ (zitiert in FT 275).
Deshalb muss die Kirche politisch sein, indem sie sich für die Schwächeren einsetzt, die Sorge um das Gemeinwohl und die ganzheitliche menschliche Entwicklung lebendig hält (FT 276) – in deren Namen sie sich für Frieden und Gerechtigkeit, Solidarität und Subsidiarität, Gemeinwohl und Geschwisterlichkeit einsetzt.
Über die Autorin
Dr. Magdalena M. Holztrattner ist Sozialethikerin, Führungskräfteentwicklerin und ehem. ksoe-Direktori