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„Wir waren Kirche … inmitten der Armen“
Eine gefährliche Erinnerung
Verfasst am 16. Dezember 2020
Michael Rammingers Buch über die Chilenischen „Christen für den Sozialismus“
Vor fünfzig Jahren, am 24. Oktober 1970, wurde Salvador Allende zum Präsidenten Chiles gewählt. Damit begann die Ära der „Unidad Popular“, jener linken Regierungskoalition, die eine sozialistische Gesellschaftstransformation auf demokratischem Wege anstrebte – bis sie durch einen Militärputsch, geführt von General Pinochet, am 11. September 1973 gestürzt wurde.
In dieser Koalition waren nicht nur zwei links-christliche Parteien die sich von der Christdemokratischen Partei (diese hatte zwar Allende mit zum Präsidenten gewählt, war aber nicht Teil der „Unidad Popular“) abgespalten hatten, vertreten, sie wurde auch durch zahlreiche christliche AktivistInnen, Priester, Ordensangehörige, TheologInnen und LaiInnen unterstützt.
Der Theologe Michael Ramminger, Mitbegründer des Instituts für Theologie und Politik in Münster, zeichnet plastisch und akribisch die Geschichte der chilenischen „Christen für den Sozialismus“ (Cristianos por le Socialismo – CPS) nach. Er schließt damit eine markante Lücke in der Geschichtsschreibung über das sozialistische Experiment in Chile. Ramminger baut den Text entlang zahlreicher Interviews auf, die er mit ehemaligen Protagonisten der CPS vor einigen Jahren geführt hat. Zudem bezieht er sich auf das Privatarchiv von Sergio Torres (welches, im Gegensatz zu vielen anderen Dokumenten, die Zeit der Diktatur überstanden hat), einem führenden Aktivisten der Gruppe, sowie auf zahlreiche Veröffentlichungen aus jener Zeit.
Den „Christen für den Sozialismus“ war nur eine kurze aktive Zeitspanne gegönnt: Gegründet bald nach Allendes Amtsübernahme 1970 wurden sie, so wie alle linken Organisationen, mit dem von Augusto Pinochet angeführten Putsch vom 11. September 1973 zerschlagen. Viele Aktive wurden gefoltert, einige ermordet, zahllose mussten ins Ausland flüchten.
Von II. Vatikanischen Konzil zur „Unidad Popular“
Hintergründe der Organisation waren zum einen das II. Vatikanische Konzil und zum anderen die mit der lateinamerikanischen Bischofskonferenz 1968 sich konstituierende Befreiungstheologie. Unmittelbarer Ausgangspunkt der CPS war das sogenannte „Treffen der 80“, eine Zusammenkunft von Priestern, LaiInnen, Ordensmitgliedern und TheologInnen, die sich – entgegen der indifferenten bis ablehnenden Haltung der Kirchenhierarchie – als UnterstützerInnen der reformsozialistischen „Unidad Popular“-Regierung verstanden, und dies nun auch öffentlich kundtaten. Wie auch der Titel des Buches nahelegt, war die Mehrzahl der AktivistInnen, darunter viele Pfarrer, in „Poblaciones“, den Vorstädten der Deklassierten und Armen tätig. Dies brachte die CPS auch immer wieder in eine Auseinandersetzung mit jenen linken Organisationen – allen voran die Kommunistische Partei – die nur im gewerkschaftlich organisierten Fabriksproletariat das Subjekt revolutionärer Umgestaltung sahen. Die meisten der linken ChristInnen teilten hingegen die von der Befreiungspädagogik Paolo Freires und der Befreiungstheologie formulierte Option für die Armen, und somit auch einen deutlich breiteren Begriff von ArbeiterInnenklasse als revolutionärem Subjekt. Markant ist auch die Breite der vertretenen Positionen wie auch die untypische Organisationsweise der CPS als loses, wenn auch strukturiertes und permanent aktives Netzwerk. Dies stellte einen signifikanten Unterschied zur hierarchischen Organisationsform der katholischen Kirche als auch der linken Parteien dar.
Bald nach ihrer Gründung waren Mitglieder der CPS an allen wesentlichen Aktivitäten der religiösen Linken führend beteiligt: von einem Treffen mit Fidel Castro und einer – in kirchlichen Kreisen massiven Widerstand auslösenden – Kubareise einer christlichen Delegation über das lateinamerikaweite Treffen christlicher Linker im April 1972 bis hin zur Publikation zahlreicher Broschüren, Flugblätter und Rundbriefe. Waren dabei die CPS anfänglich lediglich um die Großstädte, allen voran die Hauptstadt Santiago konzentriert, konnten sie sich bald auch in der chilenischen Provinz verankern.
„CPS ist ein Ort der Begegnung von Christen, die Mitglied oder kein Mitglied in einer Partei der Linken sind, aber die gleiche Verpflichtung mit der Arbeiterklasse und für den Sozialismus teilen.“ (Aus dem Selbstverständnis der CPS, S. 257)
Vielfältige Konflikte
Zentrale Konfliktlinien, die Ramminger nachzeichnet, waren die Auseinandersetzungen mit der kirchlichen Hierarchie und das Verhältnis zu den politischen Parteien (sowohl der oppositionellen Christdemokratie als auch der linken Parteien inner- und ausserhalb der Unidad Popular). Weiters war die Frage zentral, ob einer eigenen, befreienden Ekklesiologie eine Rolle in der linken Organisierung der Chilenischen ChristInnen zukommen soll, oder ob letztere sich einfach politisch an den sozialen Kämpfen und politischen Auseinandersetzungen beteiligen sollen, ohne dafür eine spezifisch christliche Form zu finden.
Eine bedeutende Strömung innerhalb der CPS tendierte im Laufe der Zeit zur linksradikalen Organisation MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria – Bewegung der revolutionären Linken), die außerhalb der Unidad Popular und entgegen deren parteipolitischer Linie auf die „Poder Popular“ (Volksmacht), also eine von unten konstituierte Volksmacht – vor allem im Zuge von Landbesetzungen – ,setzte, und sich beim Abzeichnen der politischen Niederlage zum bewaffneten Kampf entschloss. Die politisch Herrschenden sowie die Amtskirche nahm diese Nähe einzelner CPS-AktivistInnen zum Anlass, um eine schärfere Repression gegen die CPS als Ganzes in Gang zu setzen. Mit dem Putsch Pinochets wurde die CPS – wie sämtliche Organisationen der Linken – verboten.
Die Amtskirche und der „Andere 11. September“
Aufgrund der Verschärfung des Widerstands seitens der oppositionellen Rechten, gipfelnd in einem von UnternehmerInnen-Verbänden, unter tatkräftiger Mithilfe der USA, ausgerufenen Generalstreik und begleitet von der zunehmenden Aktivität rechter Militäreinheiten und Schlägertruppen, konzentrierte sich ab Ende 1972 die Arbeit der CPS zunehmend auf die Abwehr dieser Angriffe. Die Kirchenhierarchie war im besten Fall neutral, zahlreiche Bischöfe neigten jedoch zur Rechten und sprachen immer deutlicher von einer Unvereinbarkeit von Marxismus und Christentum. Dabei tätigte der chilenische Kardinal Henriquez noch im April 1972 durchaus positive Aussagen über einen pluralen und demokratischen Sozialismus, die marxistische Gesellschaftsanalyse und den Klassenkampf (S. 128). Andererseits wurden jedoch bereits im selben Jahr zwei linke Armenpriester aus politischen Gründen entlassen. Es zeichnete sich ab, was angesichts des Putsches vom 11. September traurige Wirklichkeit werden sollte: Die Mehrheit der Bischöfe begrüßte die autoritäre „Wiederherstellung der Ordnung“. Die Aktivitäten des CPS hatte zwar die Tendenz der Amtskirche zur Verteidigung des Kapitalismus gegen das sozialistische Experiment etwas bremsen können, aufhalten aber konnte sie diese nicht. Wieder einmal hat sich die offizielle Kirche auf die Seite der Herrschenden geschlagen.
Michael Rammingers Buch besticht nicht nur durch eine plastische und – durch die zahlreichen Interviews – authentische Nacherzählung der Geschichte der „Christen für den Sozialismus“, sondern bietet auch prägnante Analysen der Bruchlinien, internen Differenzen und der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Organisation sowie mit Staat, Parteien und vor allem der Kirchenhierarchie. Nicht zuletzt bietet es durch den umfangreichen Anhang, bestehend aus Dossiers, Erklärungen, Briefen, aber auch deklassifizierten CIA-Akten, eine nahezu umfassende Zusammenschau zur christlichen Linken im Rahmen eines der wichtigsten demokratisch-sozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts. Durch das aktuell deutlich sichtbare Scheitern des ökologisch und sozial verheerenden Kapitalismus ist diese „gefährliche Erinnerung“ Rammingers gerade heutzutage enorm wichtig, für ChristInnen, Linke, und hoffentlich auch für die Kirche – um aus den Fehlern und aus den Errungenschaften der Vergangenheit zu lernen.
Die sozialen Massenbewegungen der letzten beiden Jahre, gipfelnd im überwältigenden Referendum gegen die noch aus der Diktatur stammenden Verfassung und für eine neue verfassungsgebende Versammlung – genau 50 Jahre nach der Wahl Allendes zum Präsidenten – geben großen Anlass zur Hoffnung.
Über den Autor
Martin Birkner ist Sozialphilosoph und Kapitalismuskritiker. Er lebt in Wien und im Südburgenland, und leitet die Edition kritik & utopie im Mandelbaum Verlag. Er ist aktiv in der Bewegung für ein Bedingungsloses Grundeinkommen.