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18.3.2020
In der Krise größer denken
Reflexionen eines Kriegsflüchtlings zur aktuellen Lage in Österreich
Die aktuelle Situation und Stimmung rund um die Eindämmung des Coronavirus ist mir keineswegs fremd. Als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach, wurden alle Menschen besorgt und gestresst. Der gewöhnliche Alltag hat sich drastisch verändert. Wir mussten tendenziell auf Dinge verzichten. Es war ein ernüchternder Moment, festzustellen, dass vieles, was wir hatten, nicht mehr selbstverständlich ist. Menschen begannen sich Gedanken zu machen wie sie den Krieg überleben könnten. Natürlich war Einkaufengehen keine Option um ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Denn es ging in Syrien um etwas anderes als heute in Österreich.
Heute sehe ich viele Parallelen mit der vergangenen Zeit und kann behaupten, dass es eine lehrreiche Situation und große Lektion ist. Es steckt in dieser Krise ein großes Potenzial. Einmal innezuhalten und über uns und unseren Lebensstil nachzudenken. Besonders für diejenigen, die kein Verständnis für Geflüchtete aufbringen konnten und jetzt ihre Speisekammer mit Unnötigem und Klopapier für ein Jahr vollgestopft haben.
Urteile bitte nicht mehr über andere
Jetzt können wir vielleicht mehr Verständnis für Menschen haben, die vor Krieg, Verfolgung und Armut fliehen. Und auch nachvollziehen, dass dieser Überlebensinstinkt in solchen Situationen dazu führen kann, dass man bereit ist, mit dem Schlauchboot das Mittelmeer zu überqueren.
Diese Situation zeigt uns auch die Gefahr einer Doppelmoral in der Politik: Wenn die Gefahr uns selbst betrifft, dann können wir Schulen schließen, Systeme herunterfahren und unseren Alltag stoppen. Aber wenn Menschen an unseren Grenzen ertrinken, erfrieren und menschenunwürdig behandelt werden, dann können wir sie ihrem Schicksal überlassen und wegschauen. Vielleicht es ist eine Lektion gegen jede Überheblichkeit, wenn alles vorbei ist…
Ich sehe in dieser Krise insofern auch eine Lektion, weil sie alle betrifft und uns auf schräge Art und Weise eint. Länder die sich gestern bekriegt haben, sitzen heute im gleichen Boot. Politiker, die gestern noch hässlich miteinander umgegangen sind, arbeiten jetzt zusammen.
Dieses Virus will uns auch etwas über Rassismus lehren. Es ist nicht rassistisch. Es macht keinen Unterschied zwischen Muslim und Christ, schwarz oder weiß, links oder rechts.
Am Ende mehr Zusammenhalt
Irgendwann es ist alles vorbei und wir werden unseren gewöhnlichen Alltag wieder haben. Aber ich hoffe, dass wir dann einander mehr Zusammenhalt und Solidarität zeigen werden. Und nicht nur einander, sondern auch unserer Erde gegenüber!
Es gibt bereits eine Solidaritätswelle, Menschen helfen sich gegenseitig, achten aufeinander, machen sich Mut. Über die Sozialen Medien geben Menschen Konzerte, Lesungen, wird Nachbarschaftshilfe organisiert. Auch ich habe live auf Facebook von Zuhause aus ein Kabarett gemacht und mit meinen Facebook-FreundInnen viel gelacht.
Meine Hoffnung ist groß, dass wir uns dann auch jenen Menschen gegenüber solidarisch verhalten, die schon seit Jahren um Hilfe bitten: Menschen in Not, egal welcher Art von Not und egal woher sie kommen. Krisen und harte Schicksalsschläge führen dazu, dass man größer als in seinen gewöhnlichen Kreisen denkt!
Über den Autor
Jad Turjman studierte in Syrien englischsprachige Literatur und war in der Stadtverwaltung in Damaskus tätig. Er kam 2015 als Kriegsflüchtling nach Österreich, lebt und arbeitet seither in Salzburg. Von seinen Fluchterfahrungen berichtete er 2019 im Buch „Wenn der Jasmin auswandert. Die Geschichte meiner Flucht“. Er schrieb das Buch auf Deutsch, Karim El-Gawhary steuerte das Vorwort bei.