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19.12.2024
Der Wohnraum im ökonomischen Lehrbuch
Autor: Sebastian Thieme
Das Thema »Wohnraum« brennt vielen Menschen aus nachvollziehbaren Gründen unter den Nägeln. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (in Deutschland) hat in seinem Jahresgutachten 2024/2025 diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch im öffentlichen Diskurs und den sozialen Netzwerken wird dies diskutiert. Ich möchte das zum Anlass nehmen, um einmal darauf hinzuweisen, wie problematisch die Behandlung von Wohnraum in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern sein kann. Ich halte das für wichtig, weil das ein Standard-Inhalt in der ökonomischen Ausbildung ist, der nicht nur das Denken von Fachleuten aus ›der‹ Ökonomik prägt, sondern sich auch über Medien (TV, soziale Netzwerke usw.) und Politik ins gesellschaftliche Denken einschreibt.
Dazu möchte ich noch folgende Anmerkungen voranstellen: Ich befasse mich schon länger mit Normativität, Ideologie usw. im ökonomischen Denken. Dazu schaue ich mir auch Lehrbücher an. Das, was dort zum ›Wohnungsmarkt‹ vermittelt wird, liefert Beispiele für die wirtschaftsliberale Ausrichtung dieser sich dort ›wertneutral‹ und ›objektiv‹ darstellenden Ökonomik und dafür, wie problematisch diese wirtschaftsliberale Marktzentrierung ist.
Es gibt diverse Auseinandersetzungen mit dem ›Wohnungsmarkt‹ in verschiedenen Kontexten; ich konzentriere mich nachfolgend exemplarisch auf das Lehrbuch von Krugman/Wells (2017, Volkswirtschaftslehre. Stuttgart: Schäffer/Poeschel).
Der Wohnungsmarkt bei Krugman/Wells (2017)
Bei Krugman/Wells (2017) dient der Wohnungsmarkt als ein illustratives Beispiel, um den Lesenden näher zu bringen, warum Preisregulierungen – Eingriffe in ›den‹ Markt – schlecht sind. Dazu diskutieren sie »Höchstpreise«, d.h. Preisobergrenzen, die die Miete erschwinglich halten sollen. Gleich am Anfang wird eine dafür sehr wichtige Annahme getroffen: »Die betrachteten Märkte erzielten vor Einführung der Preisvorschriften eine effiziente Lösung.« (Krugman/Wells 2017: S. 136). Es wird zwar eingeräumt, dass Märkte auch ineffizient sein können, aber praktisch seien Preisvorschriften oft in effizienten Märkten eingeführt worden: »In der Praxis werden Preisvorschriften jedoch oft auf effizienten Märkten eingeführt, wie zum Beispiel auf dem New Yorker Wohnungsmarkt. « (Krugman/ Wells 2017: 135) Krugman/Wells (2017) betonen, dass die Ergebnisse der Analyse in ihrem Lehrbuch auf viele Situationen des Alltagslebens anwendbar seien.
Danach führen Krugman/Wells (2017: S. 137) Mietpreisvorschriften in New York an: Der Grund für ihre Einführungen lag darin, dass die USA im Zuge des Zweiten Weltkriegs einen starken Wirtschaftsaufschwung erlebten, damit eine höhere Nachfrage nach Wohnraum bestand, es aber kriegsbedingt nicht genug Lohnarbeitskräfte gab, um diese Wohnungen zu bauen.
»Die Mietpreisvorschriften in New York sind, man kann es glauben oder nicht, ein Vermächtnis des Zweiten Weltkrieges: Sie wurden eingeführt, weil der Krieg zu einem starken Wirtschaftsaufschwung führte, der die Nachfrage nach Wohnungen zu einer Zeit erhöhte, als Arbeit und Rohstoffe, die eigentlich für den Wohnungsbau benötigt worden wären, stattdessen eingesetzt wurden, um den Krieg zu gewinnen. Obwohl die meisten Preisvorschriften kurz nach Ende des Krieges aufgehoben wurden, blieben die Mietpreisvorschriften in New York bestehen. Sie wurden schrittweise auch auf Gebäude ausgedehnt, die vorher davon nicht betroffen waren, was zu einigen recht merkwürdigen Situationen führte.« (Krugman/Wells 2017: 137)
Worin nun das konkrete Problem der Menschen mit dem Wohnraum liegt? Das ist nicht so recht klar. Die Lesenden erfahren dort nur von einer Situation, in der für kleine Wohnungen sehr viel Miete verlangt wird, während woanders günstigerer Wohnraum existiert. Danach konstruieren Krugman/Wells (2017) einen effizienten Mietmarkt als Angebots-Nachfrage-Modell, das als Referenzpunkt für ihre weiteren Aussagen und Schlussfolgerungen (Wertungen) dient. An dem Beispiel dieses Wohnungsmarktmodells wird dann gezeigt, welche Nachteile ein Eingriff in einen solchen idealen, effizienten Markt mit sich bringe (ausbleibende Investitionen, Ressourcenverschwendung, Schwarzmärkte etc.). Die eingangs erwähnte wirtschaftsliberale Marktzentrierung ist im Lehrbuch genau dort angelegt, d.h. sie liegt in der Konzentration der Autoren auf das Ideal eines funktionierenden und effizienten Marktes.
Ein kritischer Blick
An keiner Stelle fragen Krugman/Wells (2017), ob sich Wohnraum überhaupt sinnvoll über freie Märkte organisieren lässt. Alternativen zum Markt sind z.B. Genossenschaften oder Wohnungssyndikate. Aber das spielt dort offenbar keine Rolle, obwohl das selbst innerhalb dieses mainstream-ökonomischen Denkens als Abwägung von Opportunitätskosten (Alternativkosten) relevant sein könnte. Seltsam wirkt außerdem, wenn Krugman/Wells (2017: 136) zunächst behaupten, Preisregulierungen würden oft auf effizienten Märkten eingeführt, um später zu schreiben, dass sie »typischerweise in krisenhaften Situationen eingeführt« wurden. Die Argumentation zum historischen Beispiel New York passt deshalb überhaupt nicht zu ihrem Narrativ des Eingriffs in effiziente Märkte: Denn wenn die Situation, die die Autoren beschreiben (hohe Nachfrage, die angebotsseitig nicht befriedigt werden konnte), keine wirtschaftliche Krisensituation ist, was dann? Tatsächlich liegt es nahe, in von Krugman/Wells (2017) angeführten Situationen eine Art »Marktversagen« zu sehen, d.h. dass ›der‹ Markt nicht funktionierte (vorausgesetzt, es hätte vorher tatsächlich einen funktionierenden Wohnungsmarkt gegeben). Aber selbst wer die Einschätzung eines Marktversagens nicht teilt, kommt nicht umhin, festzustellen, dass die historische Situation, die Krugman/Wells (2017) als Beispiel wählten, alles andere als einen funktionierenden Markt zeigt. Und so ist die Preisregulierung in dieser Situation eben auch kein Eingriff in einen funktionierenden Markt.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass – wenn auch nicht immer deutlich ausformuliert –angenommen wird, die Notwendigkeit nach Wohnraum würde sich in der Zahlungsbereitschaft der Haushalte bzw. Personen ausdrücken. Nun ist das zwar eine beliebte ökonomische Annahme, mit der aber die Unterschiede in Einkommen und Vermögen ignoriert werden. Haushalte mit bescheidenem Einkommen (Niedriglohnsektor usw.) können in dem dadurch bedingten Signalisierungswettbewerb um Wohnraum nur beschränkt mitbieten. Selbst in einer akuten Notlage können einkommensarme Haushalte nur die Notwendigkeit in Höhe ihres schmalen Geldbeutels signalisieren. Deshalb wirkt es auch kaltschnäuzig, wenn die Autoren für das ideale Marktmodell im Lehrbuch davon ausgehen, dass die Mieten im effizienten Markt lediglich um 25% höher lägen als im Regulierungsfalle. Für einkommensarme Haushalte mag sich damit nämlich bereits eine existenzielle Notlage verbinden.
Generell ist zu sagen: Das Grundproblem, mit dem solche Lehrbücher wie das von Krugman/Wells (2017) einsteigen, besteht darin, dass nicht genügend angemessener Wohnraum zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht. An diesem Problem geht die Diskussion um effiziente Marktlösungen für Wohnraum wie im Lehrbuch von Krugman/Wells (2017) fundamental vorbei. Denn angemessener Wohnraum zu angemessenen Preisen ist dann in solchen Lehrbüchern üblicherweise kein Thema mehr. Mehr noch: Das soziale Anliegen, für angemessenen Wohnraum zu sorgen, wird in solchen Lehrbuchargumentationen zu Gunsten einer wirtschaftsliberalen Lösung für mehr teureren Wohnraum ins Abseits gestellt. Es tauchen auch keine Alternativen zum ›Markt‹ ohne Regulierung auf. Am Ende darf ernüchtert festgestellt werden, dass eine solche Lehrbuch-VWL die Menschen mit ihren praktischen Problemen alleine lässt.
Fazit
Ein standard-ökonomisches und marktzentriertes (Lehrbuch-)Denken wie bei Krugman/Wells (2017), das hier beispielhaft für andere Lehrbücher steht, ignoriert alternative Formen des Eigentums (genossenschaftliches Eigentum, gemeinsam verwaltetes Eigentum usw.). Mit wirtschaftlichen Praktiken ohne Gewinnmaximierung (Gemeinnützigkeit, Non-Profit-Sektor usw.) hat eine solche Ökonomik offenbar ein handfestes Problem. Auch ein soziales Grundrecht auf Wohnraum (Art. 11 des UN-Sozialpakt; Art. 31 der Europäischen Sozialcharta) spielt überhaupt keine Rolle. Wohnraum gilt in ›dieser Ökonomik‹ als normales Gut, aber nicht als notwendige Voraussetzung für eine (auch marktwirtschaftliche) Wirtschaftsordnung, die dann selbstverständlich über einen entsprechenden Ordnungsrahmen garantiert sein sollte.
Bei allen kritischen Punkten, die sich im Jahresgutachten 2024/2025 (PDF) der Wirtschaftsweisen finden lassen, ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass sie sich zum sozialen Wohnungsbau bekennen und auf die Wohngemeinnützigkeit verweisen (Gutachten, Punkte 374-376). Davon abgesehen sollten meine Ausführungen zur lehrbuchökonomischen Perspektive auf »Wohnraum« deutlich werden lassen, wie schwierig die Voraussetzungen dafür sind, Wohnraum angemessen in ›der Ökonomik‹ zu thematisieren. Die Merkwürdigkeiten, die sich in der Debatte mit vielen Ökonom:innen um Wohnraum zeigen, sind damit nicht etwa zufällig, sondern systemisch und vorprogrammiert.
Zum Autor: Sebastian Thieme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der ksœ