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19.11.2024
Demokratie ist (k)eine Frage von Ressourcen
Autor: Johannes Webhofer
Soziale Ungleichheit ist ein wachsendes Problem in vielen modernen Demokratien und hat weitreichende Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit und Stabilität demokratischer Systeme. Sie manifestiert sich in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, aber besonders deutlich wird sie im Kontext politischer Partizipation.
Hat Österreich gewählt?
Der Zugang in das politische System ist prinzipiell allen Menschen offen. Das System kennt weder Unterschiede betreffend das Geschlecht, Aussehen, Wohlstand, Bildung oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgemeinschaften. Betrachtet man jedoch politische Wahlen, einen Kernbestandteil demokratischer Partizipation, werden drei wesentliche Einschränkungen deutlich: Personale Beschränkungen (z.B. mental Beeinträchtigte oder Strafgefangene), das gesetzliche Wahlalter und die Staatsbürgerschaft (Bauböck 2003). Diese Kriterien sind zwar nicht unumstritten, scheinen aber durchaus gerechtfertigt zu sein. Persönliche Beschränkungen sowie das Wahlalter berücksichtigen u.a. die Schwere strafrechtlicher Vergehen und die Mündigkeit der Bürger:innen, während die Staatsbürgerschaft sicherstellen soll, dass primär jene an Wahlen teilnehmen, die im betreffenden Staat leben und von dessen politischen Entscheidungen direkt und langfristig betroffen sind.
Ein Blick auf die Wohnbevölkerung Österreichs im Vergleich zu den tatsächlichen Wahlberechtigten zeigt jedoch, dass gerade hier erhebliche Diskrepanzen bestehen. Bei der letzten Nationalratswahl waren etwa 6,34 Millionen Menschen stimmberechtigt. Gleichzeitig konnten rund 1,4 Millionen Einwohner:innen aufgrund fehlender Staatsbürgerschaft nicht an der Wahl teilnehmen. Die Zahl der nicht wahlberechtigten, aber in Österreich ansässigen Personen im wahlfähigen Alter ist in den letzten zwei Jahrzehnten stetig gestiegen und macht, wie Abbildung 1 verdeutlicht, mittlerweile 18 Prozent der wahlmündigen Bevölkerung aus.
Abbildung 1: Nationalratswahl 2024 – Stimmenanteil Wohnbevölkerung im Wahlalter (16+) [Quelle: bmi.gv.at/Statistik Austria]
Die "Nicht-Wahlberechtigten" setzen sich überwiegend aus Menschen zusammen, die ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben, hier einer Beschäftigung nachgehen und entsprechend Abgaben entrichten. Dennoch scheitern viele an den Hürden zum Erwerb der Staatsbürgerschaft, sei es aufgrund der finanziellen Anforderungen oder des Fehlens einer Option zur Doppelstaatsbürgerschaft. Die ökonomischen Voraussetzungen erweisen sich für zahlreiche Betroffene als kaum erfüllbar: Eine alleinstehende Person benötigt, abhängig von ihrer Wohnsituation und anderen Fixkosten, ein Nettoeinkommen von etwa 2.000 Euro, um die erforderlichen Kriterien zu erfüllen. Da jedoch die Hälfte der österreichischen Arbeitnehmer:innen unter dieser Einkommensschwelle liegt, bleibt vielen trotz Vollzeitbeschäftigung der Weg zur Staatsbürgerschaft verwehrt. Besonders betroffen davon sind einmal mehr Frauen, Alleinerziehende sowie generell Personen mit niedrigerem Einkommen. Dies führt zu einem wachsenden demokratiepolitischen Defizit, da eine wachsende Zahl der hier lebenden Menschen von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen bleibt. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern verdeutlicht, dass Österreich eines der restriktivsten Staatsbürgerschaftsgesetzen hat. Die Möglichkeit zur Doppelstaatsbürgerschaft gehört in den meisten europäischen Ländern zum Alltag. Auch die finanziellen Hürden fallen in den meisten europäischen Ländern geringer aus. Die nach Wahlen oft verwendete Schlagzeile "Österreich hat gewählt" verschleiert also nicht nur, dass eine beträchtliche Gruppe von hier lebenden und arbeitenden Personen ausgeschlossen wird, sondern suggeriert auch, dass diese Menschen nicht zur österreichischen Gesellschaft gehören. Diese Ausgrenzung widerspricht dem Ideal einer inklusiven Demokratie und untergräbt langfristig den sozialen Zusammenhalt.
Sozioökonomische Faktoren
Die politikwissenschaftliche Forschung offenbart aber auch, dass politische Partizipation weit über die Frage der Staatsbürgerschaft hinausgeht. Faktoren wie formale Bildung, ökonomische Sicherheit und die subjektive gesellschaftliche Selbstverortung beeinflussen maßgeblich sowohl das Wahlverhalten als auch andere Formen politischer Beteiligung. Wie Zandonella/Ehs (2020) in ihrer Untersuchung für die Bundeshauptstadt Wien eindrucksvoll nachweisen konnten, variiert die Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlsprengeln, abhängig vom Durchschnittseinkommen oder der Arbeitslosenquote. So zeichnen sich jene Stadtteile, in denen über ein Drittel der wahlberechtigten Wiener:innen leben, durch begrenzte wirtschaftliche Mittel und einen niedrigen sozialen Status aus. Charakteristisch sind hier Berufe mit geringem Ansehen, eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittliche Einkommen. Entsprechend liegt die Wahlbeteiligung in diesen Gebieten erheblich unter dem gesamtstädtischen Durchschnitt.
Politische Partizipation geht weit über die bloße Stimmabgabe bei Wahlen hinaus. Sie umfasst ein breites Spektrum an Aktivitäten: von der Mitarbeit in politischen Parteien oder Bürgerinitiativen über die Teilnahme an Demonstrationen und das Sammeln von Unterschriften für politische Anliegen bis hin zur aktiven Beteiligung an politischen Diskussionen oder zum direkten Einfluss auf Politiker:innen. Bei einem genaueren Blick auf diese vielfältigen Partizipationsformen wiederholt sich das bereits bei Wahlen beschriebene Muster: Menschen mit höherer formaler Bildung und solidem finanziellen Hintergrund engagieren sich deutlich aktiver und gestalten somit die politische Landschaft maßgeblich mit. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Stimmen und Interessen sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen häufig weniger Gehör finden, wodurch ihre Anliegen tendenziell in den Hintergrund gedrängt werden. Ein gewisses Korrektiv können hier vor allem NGOs und soziale Organisationen leisten, sofern sie professionell organisiert sind und die Anliegen sozial Schwächerer vertreten.
Populismus und populistische Kommunikation
Politik wird heute vorwiegend als kommunikativer Prozess verstanden, und Demokratie ist ohne die politische Öffentlichkeit nicht vorstellbar. Das Internet bietet zwar Vorteile für die politische Kommunikation, schafft aber auch demokratiegefährdende Räume. Dazu gehören verschwörungstheoretische Foren, algorithmische Social-Media-Kanäle, die Filter-Blasen fördern, oder Influencer-Kanäle, die ungenügend reflektierte politische Inhalte verbreiten. Der Digitale News Report 2024 für Österreich zeigt einen wichtigen Zusammenhang: Die Frequenz und Qualität der Mediennutzung stehen in engem Verhältnis zu Einkommen, Alter und Bildungsgrad. Diese Erkenntnis enthüllt eine problematische Entwicklung: Während hochwertige politische Berichterstattung oft an sozial schwächeren Gruppen vorbeigeht, findet populistische Kommunikation leichter Gehör. Kennzeichnend für populistische Politik ist ihre Tendenz, komplexe Themen auf simple Lösungsansätze zu reduzieren und dabei häufig Sündenböcke zu präsentieren. Diese Strategie hat weitreichende Folgen: Sie fördert nicht nur die gesellschaftliche Polarisierung, sondern nährt auch die Neigung, bestimmte Gruppen – oft Ausländer:innen – pauschal für diverse Probleme verantwortlich zu machen.
Die zunehmende soziale Ungleichheit stellt jedenfalls eine ernsthafte Herausforderung für moderne Demokratien dar. Nur durch eine aktive Bekämpfung sozialer Ungleichheit und die Förderung inklusiver politischer Prozesse kann die langfristige Stabilität und Legitimität demokratischer Systeme gesichert werden. Dies erfordert ein Umdenken auf vielen Ebenen und ein klares Bekenntnis zur Stärkung der demokratischen Kultur in allen Bevölkerungsgruppen – insbesondere seitens der politischen Parteien.
Quellen:
Bauböck, Rainer (2003): Wessen Stimme zählt? Thesen über demokratische Beteiligung in der Einwanderungsgesellschaft. In: https://eif.univie.ac.at/downloads/workingpapers/IWE-Papers/WP35.pdf, 01.10.2024.
Gadringer, Stefan et al (2024): Digital News Report Austria 2024. In: https://digitalnewsreport.at/wp-content/uploads/2024/06/DNR_2024-AT.pdf, 01.10.2024.
Zandonella, Martina/Ehs, Tamara (2020). Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie. In: https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/api/v1/records/AC17256939/files/source/AC17256939.pdf, 01.10.2024.
Dieser Beitrag erscheint auch in der Zeitschrift Zeitschrift „INTERESSE. Soziale Information”.
Zum Autor: Johannes Webhofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der ksœ