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18.09.2024
Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft!
Auch nach 72 Jahren noch hochaktuell: Das Mariazeller Manifest
Autor: Markus Schlagnitweit
Im aktuellen Wahlkampf zur Nationalratswahl melden sich – mehr als in der jüngeren Vergangenheit – auch kirchliche Stimmen kritisch zu Wort, insbesondere zu (rechts-)populistischen und völkisch-nationalen Positionen, wie sie zwar nicht nur, aber hauptsächlich und am klarsten von der FPÖ vertreten werden. Diese tritt wiederum vehement für eine strikte und alle Politikfelder durchziehende Trennung von Kirche und Staat ein und leitet daraus ihre Forderung nach einer strengen (partei-)politischen Neutralität bzw. „Äquidistanz“ der christlichen Kirche(n) ab. Diese Forderung sei ihr unbenommen, entbehrt aber jeder sachlichen Grundlage und Begründung.
Weder die Kirche als solche noch einzelne ihrer Einrichtungen sind aus sich selbst heraus zu „parteipolitischer Neutralität“ verpflichtet. Das in Österreich für das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Politik bzw. Staat immer noch maßgebliche „Mariazeller Manifest“ aus 1952[i] spricht sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Monarchie und der 1. Republik zwar eindeutig gegen eine (wechselseitige) Totalidentifikation bzw. ein exklusives Bündnis mit einer politischen Partei oder auch mit dem Staat als solchem aus. Manche – zuweilen sogar Mitglieder und Amtsträger der Kirche selbst – interpretieren den Kerngedanken des Mariazeller Manifests „Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ aber fälschlicherweise mit kirchlicher „Äquidistanz“ bzw. „Neutralität“ gegenüber allen politischen Kräften und deren inhaltlichen Positionen. Das Mariazeller Manifest hält ausdrücklich fest: „Was sie [Anm.: die Kirche] fordert, fordert sie nicht für sich allein, sondern für alle Menschen; die Freiheit, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt, ist sie bereit, allen zu gewähren, die gemeinsam mit ihr Freiheit und Würde des Menschen verteidigen wollen.“ Die Kirche bekennt sich also bedingungslos zum freien demokratischen Spiel aller politischen Kräfte – aber unter einer Bedingung, die bereits eine folgenreiche inhaltliche Festlegung trifft: dass diese die Freiheit und Würde „des Menschen“ (und im kirchlichen Jargon bedeutet dies unzweifelhaft „ausnahmslos aller Menschen“) verteidigen. Gegenüber politischen Forderungen, welche nicht die Freiheit und Würde aller Menschen verteidigen (sondern Menschen diskriminieren, etwa aufgrund von kultureller Herkunft, Nationalität, Ethnizität, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozialer Klasse, Religion etc.) kann die Kirche also gar nicht neutral sein und dazu schweigen.
Das Mariazeller Manifest hält vielmehr fest, dass sich die Nähe bzw. Distanz der einzelnen politischen Parteien zur Kirche und ihren aus der Katholischen Sozial- und Morallehre abgeleiteten politischen Optionen aus den jeweiligen Programmen und der Praxis der Parteien selbst bestimmen. D.h. es kann de facto gar keine Äquidistanz, sondern hinsichtlich der politisch vertretenen Inhalte durchaus unterschiedliche Distanzverhältnisse der politischen Parteien zur Kirche geben, und dieser bleibt es kraft ihrer Freiheit unbenommen, diese unterschiedlichen Distanzverhältnisse auch klar und öffentlich zu benennen.
Die Kirche sollte sich dabei nicht nur aus pastoraler Klugheit eindeutiger Wahlwerbung für eine bestimmte Partei enthalten, sondern auch weil es zu den Grundsätzen ihrer Soziallehre gehört, dass es in einzelnen (politischen) Sachfragen auch eine legitime und begründbare Pluralität an politischen Folgerungen und Optionen geben kann. Dieser Grundsatz schließt aber nicht aus, dass es umgekehrt auch klare Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen politischen Programmen bzw. Haltungen und der kirchlichen Moral geben kann. Solche auch öffentlich zu benennen, ist geradezu Pflicht der Kirche aufgrund ihrer Sendung zur Mitgestaltung der Welt im Sinne der Botschaft vom Gottesreich.
Das negative bzw. ablehnende Urteil zahlreicher kirchlicher Stellungnahmen gegenüber der FPÖ bezieht sich insofern ausschließlich auf die von dieser vertretenen politischen Inhalte, aber weder auf deren Funktionär*innen noch auf deren Wähler*innen. Niemandem unter den der FPÖ politisch nahe stehenden Personen sei abgesprochen, dass sie in ihrer Praxis auch gute Christ*innen sein können; allerdings stehen sie unter derselben Verantwortung wie alle anderen Christ*innen – nämlich ihre jeweilige parteipolitische Positionierung bzw. Option auch vor dem eigenen, an der kirchlichen Moral- und Soziallehre gebildeten Gewissen rechtfertigen zu können.
Alle sich in diesem Sinne der katholischen Kirche verbunden wissenden Menschen seien an dieser Stelle daran erinnert, dass die katholische Moral- und Soziallehre weitaus mehr Themenbereiche umfasst als den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens an dessen Beginn und Ende. Die Katholische Soziallehre nimmt Bezug auf zahlreiche weitere, für die Verteidigung der „Freiheit und Würde des Menschen“ relevante Politikfelder, wie etwa Migration, Wirtschaft, Soziales und Arbeit, Klimagerechtigkeit, Energie und Biodiversität, Frieden und Internationale Entwicklung, Medien und öffentliche Kommunikation sowie Gleichstellung und Frauenpolitik[ii], und sie beansprucht dieselbe Gültigkeit und Bedeutung für eine christlich verantwortete politische Praxis wie die oben genannten und weitere Fragen der kirchlichen Individualmoral.
[i] https://www.bischofskonferenz.at/hirtenbriefe/das-mariazeller-manifest-von-1952 (abgerufen am 12.09.2024)
Zum Autor: Markus Schlagnitweit ist Direktor der ksœ