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25.06.2024
Wohlstand, seine Voraussetzungen & Ethik
Autor: Sebastian Thieme
Wird in öffentlichen Diskussionen über Wohlstand debattiert, ist nicht selten zu erleben, dass dieses Thema auch Fragen zu Armut, Sozialtransfers und Existenzsicherung aufwirft. Nun sind Wohlstand und Existenzsicherung freilich nicht dasselbe. Wer würde schon von Wohlstand sprechen, wäre dieser auf das Existenzminimum reduziert? Gleichzeitig wird ein Mensch, der in Wohlstand lebt, einer prekären Lebenssituation entwachsen sein. Existiert also doch ein Verhältnis zwischen Wohlstand und Existenzminimum?
Auf Antworten dazu lassen aber noch nicht einmal ökonomische Lehrbücher hoffen, in denen Wohlstand als Wohlfahrt im Kontext eines Wohlfahrtsstaats diskutiert wird. Wohlfahrt als Synonym von Wohlstand konzentriert sich dort in aller Regel auf sozialstaatliche Sicherungssysteme, Sozialtransfers zur Gewährleistung eines Existenzminiums, auf Verteilungsfragen und/oder auf den Zugang zum Gesundheitssystem. Mit diesem Wohlstand verbindet sich dann aber eine ganz andere Vorstellung als wie sie üblicherweise in den Kapiteln vor oder nach der Diskussion um einen Wohlfahrtsstaat zu finden sind: In diesen Kapiteln geht es um Wohlstand im Sinne des Bruttoinlandsprodukts (BIP), es ist von Wohlfahrtsfunktionen die Rede, in denen sich Wohlstand auf abstrakte Variablen in diesen Funktionen reduziert, oder es werden Nettowohlfahrtsverluste thematisiert, die sich als abstrakte Dreiecke aus Menge und Preis in Angebots-Nachfrage-Diagrammen ergeben (siehe Abbildung).
So stehen unterschiedliche Verständnisse unvermittelt nebeneinander und die Frage, in welchem Verhältnis die soziale Sicherheit im Rahmen eines Wohlfahrtsstaats zum Wohlstand allgemein steht, bleibt weiter unterbelichtet.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Bruch im Verständnis von Wohlstand auch und vor allem in öffentlichen und politischen Debatten das Potenzial birgt, Missverständnisse zu provozieren. Im schlimmsten Falle wird dann aneinander vorbeigeredet: Die einen adressieren in der Wohlstands-Debatte die Vermeidung von Armut und die Sicherung der soziokulturellen Existenz, während andere losgelöst davon vom Wohlstandsniveau sprechen und dazu ein statistisches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf anführen.
Soziale Sicherheit & Wohlstand im systematischen Zusammenhang
Zum besseren Verständnis in dieses Verhältnis zwischen sozialer Sicherheit und Wohlstand hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass sich Wohlstand darauf bezieht, ein ›gutes Leben‹ führen zu können. Dazu muss aber zuerst gewährleistet sein, dass Menschen überleben und in einer Gesellschaft leben können. Es geht um das, was umgangssprachlich als soziale Sicherheit bezeichnet wird und die Ansprüche auf die eigene physische Existenz und eine soziokulturelle Existenz umfasst. »Wohlstand« steht dann für eine Lebenssituation, in der Menschen in der Lage sind, ihr Leben ohne Existenzangst und Angst vor Prekarität selbst in die eigenen Hände nehmen und sich selbst helfen zu können.
Damit besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen sozialer Sicherheit und Wohlstand: Die soziale Sicherheit (physische und soziokulturelle Existenz) stellt eine notwendige Voraussetzung für Wohlstand dar. Insofern ist es verständlich, wenn in den Diskussionen über Wohlstand häufig auch das Thema Armut und soziale Sicherheit zur Sprache kommt. In der Konsequenz bedeutet dies dann für die Beschäftigung mit Wohlstand, ganz bewusst soziale Sicherheit zu berücksichtigen bzw. deren Garantie vorauszusetzen und mitzudenken, ohne aber Wohlstand darauf zu reduzieren.
Fundamentalökonomischer und subsistenzethischer Kern
Die Vorstellung, dass soziale Sicherheit eine Voraussetzung für Wohlstand sei, ist kein völlig neuer Gedanke. Sie zeigt sich zum Beispiel in der Idee des Haushalts-Residual-Einkommens von Calafati u.a. (2021: 7): Damit ist das finanzielle Einkommen gemeint, das einem Haushalt frei zur Verfügung steht und sich aus dem Bruttoeinkommen abzüglich der notwendigen (foundational) Lebenshaltungskosten ergibt (d.h. Wohnkosten, Ernährung, Energie, Gesundheit, Bildung, Mobilität usw.). Übertragen auf den Wohlstands-Kontext bedeutet das, dass sich erst dann in Wohlstand leben lässt, wenn die fundamental notwendigen Lebenshaltungskosten gedeckt sind. Ein Indikator für den Grad des Wohlstands findet sich damit also im frei verfügbaren Residual-Einkommen.
Hinter dieser Überlegung steht wiederum ein Konzept, dass »Fundamentalökonomie« (»foundational economy«) oder »Alltagsökonomie« genannt wird und bewusst jene Dienste und Güter umfasst, die für das individuelle und gesellschaftliche Leben absolut notwendig sind. Den fundamentalen Charakter der damit verbundenen Wirtschaftstätigkeiten hat das Foundational Economy-Kollektiv wie folgt beschrieben:
»Dieses Fundament des wirtschaftlichen Lebens besteht aus den für die Wohlfahrt unverzichtbaren Gütern und Dienstleistungen, darunter Wohnen, Bildung, Kinderbetreuung sowie Energie- und Wasserversorgung […]. […] Diese Güter und Dienstleistungen sind für das Alltagsleben erforderlich, werden von allen Bürgern unabhängig vom Einkommen täglich in Anspruch genommen und, je nach Bevölkerungsstruktur, über Versorgungsnetzwerke und Filialnetze verteilt. Teilweise handelt es sich dabei um nicht marktbestimmte Güter, in der Regel sind sie gegen Marktkräfte geschützt, zum Teil werden sie unter staatlicher Oberhoheit von privaten Konzessionsären produziert oder zur Verfügung gestellt.« (The Foundational Economy Collective 2019: 64)
Wieder übertragen auf die Frage des Wohlstands lässt sich nun schlussfolgern, dass diese Fundamentalökonomie sowohl einen quantitativ-qualitativen Bestandteil als auch die Voraussetzung für das, was üblicherweise »Wohlstand« genannt wird, beschreibt.
In eine ähnliche Richtung lässt sich auch auf Basis einer moderne Subsistenztheorie argumentieren: Wird »Subsistenz« im Sinne des Bestehens aus sich selbst heraus verstanden, ist ein Subsistieren erst dann möglich, wenn die absoluten Lebensnotwendigkeiten (minimum disaster level) und die soziokulturelle Existenz in der Gesellschaft garantiert sind (ausführlich dazu z.B. Thieme 2017). Übertragen auf die Wohlstands-Thematik heißt das dann, dass das Ausmaß, in dem subsistiert bzw. ein selbstbestimmtes Leben geführt werden kann, den Grad des individuellen Wohlstands bestimmt.
Schwierigkeiten für den Wohlstands-Diskurs
Das Problem besteht nun aber darin, dass diese fundamentalökonomischen und subsistenzethischen Aspekte in ›der‹ Ökonomik – die auch die öffentlichen und politischen Debatten prägt – bislang nicht in einer angemessenen Art und Weise gewürdigt werden: Dort tauchen sie fast gar nicht auf, sondern werden allenfalls am marginalisierten und interdisziplinären heterodoxen Rand diskutiert (z.B. Novy/ Bärnthaler/ Prieler 2023, Biesecker/ Kesting 2003 und The Foundational Economy Collective 2019).
»Angemessen« bedeutet dabei nicht, diese fundamentalökonomischen und subsistenzethischen Bereiche einfach neu zu vermessen und neue Metriken zu entwickeln. Das ist natürlich auch notwendig, um zum Beispiel das Ausmaß unbezahlter Arbeit sichtbar werden zu lassen, wie es etwa mit den Zeitverwendungsstatistiken der Statistik Austria getan wird. Aber bei einer angemessenen Würdigung geht es um mehr, nämlich darum, den fundamentalökonomischen und subsistenzethischen Vorrang dieser wirtschaftlichen Tätigkeiten zu erkennen, ihn demgemäß zu adressieren und konsequent zu berücksichtigen. Wenn das aber bereits in ›der‹ etablierten Ökonomik keine Selbstverständlichkeit darstellt, wie lässt sich dann erwarten, dass eine dadurch geprägte öffentliche und politische Debatte über Wohlstand diese fundamentalökonomischen und subsistenzethischen Aspekte zu würdigen weiß?
Hinzu kommt, dass die fundamentalen Aspekte ›des‹ Wirtschaftens mit basalen moralischen Ansprüchen verbunden sind, die dem einzelnen Menschen ein Überleben und Leben in der Gesellschaft garantieren sollen, die damit aber auch das sittliche Fundament für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen. Das darf als Fingerzeig darauf gewertet werden, dass Wohlstand immer auch mit ethischen Fragen verbunden ist: Was zählt zu jenen basalen Ansprüchen, die eine Gesellschaft jedem Menschen zubilligen soll? Was ist ›gutes Leben‹? Welche Konzentration individuellen ›Reichtums‹ können und wollen sich die Mitglieder einer Gesellschaft leisten? Diese und ähnlich gelagerte Fragen lassen erahnen, dass sich nur unvollständig über Wohlstand sprechen lässt, wenn die damit verbundene ethische Dimension ausgeklammert bleibt. Mehr noch: Die Ausklammerung dieser ethischen Dimension wird im Diskurs sehr wahrscheinlich Missverständnisse und Konflikte provozieren. Dann drohen Probleme nicht gelöst, sondern lediglich verlagert zu werden.
Konsequenz: Mehr Ethik wagen?
Die Pointe beim ökonomisch geprägten Diskurs über Wohlstand liegt deshalb darin, dass die Beschäftigung mit Wohlstand ganz zwangsläufig fundamentalökonomische Fragen aufwirft, welche wiederum zu jener ethischen Erörterung des ›guten Lebens‹ zurückführen, die einst Ausgangspunkt der Ökonomik war, von der sich die moderne Ökonomik im Laufe ihrer Entwicklung aber zu emanzipieren versuchte (siehe auch Thieme 2024: 263-264, 267).
Das als Herausforderung anzuerkennen, legt die Grundlagen für eine angemessene Beschäftigung mit Wohlstand. Das heißt erstens, dass mit einer ethischen Expertise jene normativen Aspekte von Wohlstand berücksichtigt werden können, die sich allgemein ohnehin mit ihm verbinden, die aber üblicherweise übersehen werden. Zweitens ist es über die ethische Dimension im Besonderen möglich, genau die hier thematisierten fundamentalökonomischen und subsistenztheoretischen Aspekte zu berücksichtigen, die die Voraussetzungen für Wohlstand darstellen. Mehr ethische Expertise in Wohlstandsfragen würde auf diese Weise nicht nur einen Beitrag leisten, um angemessen über Wohlstand sprechen zu können, sondern kann auch für jene analytische Präzision sorgen, die Wohlstand von seinen Voraussetzungen zu unterscheiden, aber beides auch in einen systematischen Zusammenhang zu setzen weiß.
Zum Autor: Sebastian Thieme ist wissenschaftlicher Referent für Ökonomie der ksœ
Das Buch "Wohlstand. Ideengeschichtliche Positionen von der Frühgeschichte bis heute" von Sebastian Thieme ist im Juni 2024 bei utb/Budrich erschienen.