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23.05.2024
„Ist das noch Fokus, oder sind das schon Scheuklappen?“
Autorin: Christina Diewok
Ein flapsiger Satz aus dem aktuellen Buch „Work Survive Balance“, in dem das Nachdenken über die Zukunft der Arbeit eingebettet sein soll in die ökologische Basis des Planeten Erde. Ein riesiger Themenkomplex also, wenig diskutiert, dafür umso entscheidender in den Auswirkungen für uns alle. Ein derartiges Vorhaben setzt nicht nur Unerschrockenheit, sondern auch einen bunten Background an Kenntnissen und Erfahrungen voraus. Den hat der Autor Hans Rusinek allemal vorzuweisen: Er ist Vater einer kleinen Tochter, wobei er „…sich die Care Arbeit 50/50 mit der Mutter teilt, was aus vielen Gründen nicht leicht und aus noch mehr Gründen großartig ist“ (S.239). Er engagiert sich ehrenamtlich. Außerdem hat er Studien der Philosophie, Volkswirtschaft und Politikwissenschaft absolviert, mehrjährige Erfahrung als Strategieberater gesammelt und ist mittlerweile auch als Universitätslehrer tätig. Die Art der Aufzählung irritiert Sie? Was hat die private Einbettung eines Autors mit seiner Qualifikation, über ein Thema zu schreiben, zu tun?
So viel sei schon verraten: Wir haben es mit einer der 9 im Buch beschriebenen Veränderungsdimensionen für gute Arbeit innerhalb planetarer Grenzen zu tun, konkret mit der Sichtbarkeit. Dazu unten mehr.
Um in diesem vielschichtigen Themenfeld aber nicht die Übersicht zu verlieren, sei zunächst die vorangestellte Prämisse des Buches angeführt: Die Arbeitswelt ist ein unverzichtbarer Ort für die Aushandlung und Weiterentwicklung von neuen, besseren Praktiken. Dort treffen Menschen aufeinander, die sich sonst nicht begegnen würden. Dort entsteht ein Ausgangspunkt für Lernen und Entwicklung des Einzelnen und von Unternehmen. Eine bessere, enkeltaugliche Arbeitswelt bildet damit eine „…zentrale Voraussetzung für ein demokratisches[?] Bewältigen der Klimakrise…“ (S.12).
Als weitere Elemente der Problembeschreibung folgen Einstiegskapitel über den Zustand des Planeten und der Arbeitswelt – beide vielseitig, faktenreich und doch kompakt dargestellt – sowie eine kurze Einführung in Praxistheorie, um zu veranschaulichen, wie zentral der Wandel von Praktiken für das Umsetzen von Veränderungen ist. Erfreulicherweise führt dieser Abschnitt nicht in verkopfte Gedankengebilde, sondern schärft den Sinn für konkrete, kleinteilige und niederschwellige Verhaltensänderungen als Beiträge zur nötigen Transformation. Sie können sich darunter nichts vorstellen? Dann kommen wir nochmals auf die Vorstellung des Autors Hans Rusinek und der Darstellung seines Werdegangs weiter oben zurück: Durch die Betonung der Tätigkeitsfelder, die nicht klassische Erwerbsarbeit sind, ihn als Person aber mindestens genauso ausmachen, sind Dinge und Situationen umfassender beschrieben und ist ein Beitrag zur Erweiterung des Arbeitsbegriffs geleistet; ein erster Schritt hin zur Veränderung.
Rusinek benennt 9 Veränderungsdimensionen, die angepackt werden müssen: Haltung, Organisationsverständnis, Anerkennung, Intelligenz(en), Sinn, Zusammenhalt, Zeit, Sichtbarkeit und Körper. Bei manchen davon kann man sich schon vom Begriff her vorstellen, wohin die Erörterung führen wird, bei anderen war das – jedenfalls für mich – nicht so klar: ökologische Intelligenz zum Beispiel oder der Vergleich der Regenerationssysteme Natur und Care, die beide weder angemessen bepreist noch in ihren Leistungsgrenzen wahrgenommen werden.
Als roter Faden durch die unterschiedlichen Kapitel zieht sich, wie einseitig, verzerrt und unangemessen die aktuell verbreitete Wahrnehmung unserer (Arbeits-/Business-/Erfolgs-)Welt ist, wie anstrengend und mitunter schädlich diese Blindheit für uns aber auch für unsere Mitwelt ist, und wie viel zu gewinnen wäre, ginge man Veränderungen an. Diese sind allerdings keine „quick wins“ oder „low hanging fruits“, wie man sie an den Besprechungstischen dieser Welt so gerne hat. Die wenigsten Maßnahmen taugen als genau mess- oder priorisierbare KPIs (Key Performance Indicators). Zu guter Letzt sind sie dem Einzelnen überantwortet, was die Aussicht auf generelle Auswirkungen nochmals diffuser und ungewisser macht.
Am Ende der Lektüre steht jedenfalls ein Resümee der Gegensätze: hoffnungsfroh und positiv stimmt, dass dieses interessante und dicht argumentierte Buch durch seinen eingängigen Stil und die ausführlichen Verweise vielen Menschen einen guten Einstieg ins Thema bieten kann. Deutlich gedämpfter und zweifelnder bin ich, wie groß die Anschlussbereitschaft und Offenheit dafür auf institutioneller Ebene, z.B. in Konzernen, Interessensvertretungen und Politik, ist. Als Anti-Scheuklappen-Programm jedenfalls eine eindeutige Leseempfehlung!
Das Buch "Work-Survive-Balance" von Hans Rusinek ist 2023 bei Herder erschienen.
Zur Autorin: Christina Diewok ist Leiterin des Büros der ksœ