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25.01.2024
Wie faire Arbeitsbedingungen in der Gig-Economy möglich werden können
Interview mit Christoph Leuchtenmüller (Pink Pedals)
Wenn wir nach dem Kino rasch nach Hause wollen, greifen viele zum Handy und bestellen per App ein Uber. Wenn am Mittag der Hunger quält, bestellt man sich vielleicht was bei Lieferando oder Foodora, rasch und günstig geliefert. Eher selten macht man sich dabei Gedanken über die Menschen hinter diesen Dienstleistungen, also Fahrradkurier*innen oder Taxifahrer*innen. Es sind in den meisten Fällen freiberuflich Tätige, die auf Abruf funktionieren müssen – bei Regen, Schnee und Hitze und meist für wenig Geld. Geschätzt wird dieser Bereich des Arbeitsmarktes, der auch Gig Economy genannt wird, auf bis zu 20 % des gesamten Arbeitsmarktes. Wir sprechen im Interview mit Christoph Leuchtenmüller, Betriebsrat des Fahrradkurierdienstes Pink Pedals in Graz, über faire Arbeitsbedingungen in der Gig Economy und wie man sie erreichen kann.
Das Interview ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Podcast-Gespräches.
Herr Leuchtenmüller, vielleicht können Sie erklären, was Pink Pedals eigentlich genau ist: Wer sind Ihre Kund*innen und wodurch unterscheidet sich das Unternehmen von anderen Kurierdiensten?
Wir sind klassische Fahrradkurier*innen und machen sehr viele medizinische Fahrten, transportieren Dokumente und vieles andere – wirklich quer durch die Bank. Nur mit Essen haben wir nicht so viel am Hut. Unser Alleinstellungsmerkmal in der Branche ist, dass wir wahrscheinlich zu den privilegiertesten Fahrer*innen in Österreich und der Welt gehören, weil wir eine fixe Anstellung haben. Wir sind ganz normal krankenversichert und pensionsversichert und fallen auch in den Kollektivvertrag für Fahrradkuriere. Diesen KV gibt es seit 2020; es war der erste in Europa und einer der ersten weltweit. Es gibt natürlich auch angestellte Fahrer*innen bei anderen Betrieben, selbst bei Foodora. Aber dort sind die meisten Fahrer*innen freie Dienstnehmer*innen und fallen dadurch nicht in den Kollektivvertrag. Bei den Pink Pedals haben wir außerdem einen ganz normalen Stundenlohn und werden nicht nach Gig, also nach Fahrt, bezahlt. Dadurch haben wir weniger Stress und keine Umsatzeinbußen, wenn man mal einen schlechten Tag hat. Wir haben eigentlich genau die normalen Vorzüge, die jeder Arbeiter und jede Arbeiterin haben sollte.
Schlägt sich das auch in Ihren Preisen nieder und wenn ja, sind die Kund*innen bereit, dafür mehr zu zahlen?
Man kann unsere Preise natürlich nicht 1:1 mit den Essenszustellern vergleichen, weil wir andere Dinge transportieren. Generell sind bei uns die Fahrten schon ein bisschen teurer, aber dafür ist auch der Service ein anderer. Das heißt, die Kund*innen kennen uns; sie wissen, wir sind zuverlässig, wir sind schnell. Das funktioniert auf einer ganz anderen Ebene, und die Kund*innen sind auch bereit, dafür zu zahlen. Es ist natürlich auch nicht der größte Verdienst, den wir haben, aber er ist zumindest sicher.
Wie stehen Ihre Fahrer*innen zu dieser – in der Branche relativ unüblichen – Betriebsstruktur? Gibt es auch Personen, die eigentlich die Flexibilität der Selbstständigkeit oder als freie Dienstnehmer*innen bevorzugen würden, weil sie z.B. Studierende sind, die sich einfach nebenbei etwas dazuverdienen?
Unabhängig von unseren Fahrer*innen würde ich die Grundannahme in Frage stellen, dass man als Nicht-Angestellte*r flexibler ist. Es wird von verschiedenen Plattformen behauptet, dass die Leute flexibler sind, wenn sie nicht angestellt bzw. freie Dienstnehmer*innen sind, dass sie sich Stunden besser aussuchen, Dienste leichter einteilen können etc. Das ist aus meiner Sicht ein vorgeschobenes Argument. Es ist in unzähligen Firmen mit Angestellten – auch bei uns – selbstverständlich auch möglich, Dienste zu tauschen, wenn z.B. das Kind krank ist und man zu Hause bleiben muss. Die sogenannte Inflexibilität der Angestellten bauen bestimmte Plattformen selbst auf, damit sie mehr Freiheiten haben, freie Dienstverträge auszustellen, und dadurch anders mit den Fahrer*innen umgehen können. Das Prinzip dahinter ist, das „echte“ Angestelltenverhältnis in der Praxis solcher Firmen so weit einzuengen wie möglich, damit es unattraktiv wird und Menschen das „freie“ Modell bevorzugen. Aber in Wirklichkeit ist Flexibilität ja nur eine Frage der Organisation und nicht der Anstellung. Da wird mir jeder Mensch zustimmen, der im Handwerk gearbeitet hat oder in anderen ähnlichen Branchen. Es ist immer eine gewisse Flexibilität da, weil es manchmal mehr und manchmal weniger Arbeit gibt. Dass man die Verantwortung, die man als Firma gegenüber seinen Angestellten hat, abwälzt und sagt, Flexibilität geht nur, wenn man in dieser Scheinselbständigkeit ist, stimmt aus meiner Sicht nicht. Darüber hinaus ist die Realität in solchen Firmen nicht so flexibel, wie die Leute oft glauben. Wenn man z.B. zu oft Dienste absagt, dann rutscht man in ein schlechteres „Patch“. Das ist eine Art Social Security System, das diese Plattformen haben. Die Fahrer*innen im obersten Patch können sich als Erste die Dienste aussuchen, d.h. diese freien Dienstnehmer*innen erhalten die rentablen Schichten mit vielen Lieferungen, und für diejenigen, die in den unteren Patches sind, weil sie z.B. viel Krankenstand haben oder sich vielleicht um Angehörige gekümmert haben, rutschen teilweise so weit nach unten, dass fast keine Schichten mehr verfügbar sind. Sie sind aber natürlich trotzdem auf den Job angewiesen. Solche Menschen haben einfach kein Sicherheitsnetz, das ihnen gewährleistet, dass sie im nächsten Monat immer noch einen zuverlässigen Verdienst haben.
Können Sie uns aus Ihrer eigenen beruflichen Praxis als Fahrradbote sagen: Was sind die besonderen Bedarfslagen ihrer Berufsgruppe? Und was sind die Erfolge der Organisation von Fahrer*innen als Gruppe?
Da gibt es ganz viele Punkte, angefangen bei einem Lohn, von dem man halbwegs leben kann: Letztes Jahr haben wir in den Kollektivvertragsverhandlungen eine Erhöhung um 8,6 % erreicht, auf 10 € brutto. Ein gutes Beispiel dafür, was in der Berufsgruppe essentiell ist, ist auch eine Handypauschale bzw. ein Diensthandy. Ein Handy ist in unserem Job ein absolut notwendiges Arbeitsmittel, und es ist gerechtfertigt, dass davon etwas vom Arbeitgeber bezahlt wird oder ein Diensthandy zur Verfügung gestellt wird. Wichtig wäre auch, dass es ein Dienstfahrrad bzw. fixes Kilometergeld gibt und dass Rucksäcke zur Verfügung gestellt werden und nicht – wie oft üblich – eine hohe Kaution für Ausrüstung bezahlt werden muss, für die schon mal das Gehalt aus zwei Schichten aufgebraucht wird. Natürlich gibt es noch viele andere Knackpunkte, zum Beispiel Krankenstand oder Sonntags- und Nachtzuschläge. Meistens geht es um das Sicherstellen von Grundrechten, die arbeitsrechtlich in der Vergangenheit schwer erkämpft wurden und durch die schlechten Anstellungsverhältnisse wieder untergraben werden, womit wir dann arbeitsrechtlich über 100 Jahre zurückfallen.
Wie ist es eigentlich zu erklären, dass wir in Österreich auf der einen Seite doch sehr hohe arbeitsrechtliche Standards insgesamt haben, und gleichzeitig gibt es eine Branche, die diesen Standards nicht entspricht? Bräuchte es hier mehr politische Regulation, um gerechte Arbeitsbedingungen zu ermöglichen?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe den Eindruck, die Politik ist einfach nicht mit der Geschwindigkeit dieses Booms mitgekommen. Die Entwicklung der Plattformen ist sehr schnell verlaufen: Zu Beginn war es so, dass es bei Essenszustellern durchaus einen Variantenreichtum gegeben hat. Manche Lokale haben selbst geliefert, andere haben Zustelldienste genutzt. Aber gerade durch die aggressive Plattform-Ökonomie, wo es Praxis ist, dass große Unternehmen in einen Wirtschaftszweig hineingehen und so lange Preisdumping betreiben, bis die Konkurrenz ausgeschaltet ist, kommen wir zu den vorhin geschilderten schlechten Bedingungen. Diese Firmen können sich leisten, lange keinen Profit zu machen, es „auszusitzen“, bis die Konkurrenz verschwindet. Mjam und Lieferando haben meines Wissens bis mindestens 2020 Minusgeschäft gemacht. Das heißt, es ging nur darum, den Markt zu monopolisieren und Mitbewerber zu verdrängen und im nächsten Schritt sowohl von den Lokalen als auch von den Fahrer*innen ordentlich abzuschöpfen. Was wir nicht vergessen dürfen, ist nämlich, dass nicht nur die Fahrer*innen schlechten Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, auch die Lokale müssen teilweise über 30 % vom Bestellwert abgeben.
Im Vorgespräch haben Sie gesagt, dass Sie eine durchmischte berufliche Vergangenheit haben und oft erlebt haben, wie Menschen ausgebeutet wurden und prekär tätig waren. Können Sie das vielleicht etwas konkretisieren? Wo kommen Sie selber her, und was motiviert Sie, sich jetzt als Betriebsrat zu engagieren?
Meine berufliche Laufbahn hat in der Elektrotechnik-HTL und mit einer Tischlerlehre begonnen. Ich habe danach in verschiedenen Handwerken und am Bau gearbeitet, und gerade am Bau ist mir aufgefallen, wie ungerecht die Arbeitszustände oft sind. Beispielsweise gab es da Hilfsarbeiter aus Polen, die im Auto geschlafen haben, obwohl sie genau die Menschen sind, die eigentlich die Gebäude bauen, in denen wir wohnen. Später habe ich auch als Bäcker gearbeitet und hatte Kontakt mit Leuten, die Märkte aufbauen usw. Was mir aufgefallen ist: Unser alltägliches Leben wird von Menschen gestemmt, die teilweise mit ihrem Lohn unter der Armutsgrenze leben und sich mit ihrem Lohn nur mehr darum kümmern können, dass sie irgendwie diese Arbeit schaffen und ihre Familie ernähren können. Da braucht man nicht so weit von sich weg zu schauen: Reinigungskräfte sind ja beispielsweise Teil der Gig Economy – essenzielle Arbeit, die oft ganz unsichtbar bleibt. Ein weiteres Beispiel sind die Menschen im Krankenhaus, die Patienten in den Betten von Station zu Station bringen – die Berufsgruppe hat auch irrsinnig kleine Löhne, ist aber extrem wichtig für unser Zusammenleben und das Funktionieren unserer Gesellschaft. Ich erzähle das, weil es nicht nur darum geht, dass sich eine Sparte organisiert, sondern jede Sparte, die sich organisiert, stützt ein gemeinsames Streben nach besseren Arbeitsbedingungen, nach besseren Rechten und unterstützt somit auch die anderen Branchen.
Die Bereiche, die Sie jetzt genannt haben, müssten doch eigentlich der ideale Nährboden für gewerkschaftliche Zusammenschlüsse sein, oder sind das inzwischen so losgelöste Bereiche voneinander, dass sie gar nicht mehr erreichbar sind für Gewerkschaften?
Es gibt sehr viele Hinderungsgründe, weshalb sich Menschen teilweise gar nicht von der Gewerkschaft vertreten lassen wollen. Das sind oft Menschen, die sagen: „Ich habe eine so große Arbeitslast und daheim eine Familie, die ich eh kaum mehr sehe – jetzt soll ich mich auch noch organisieren?“ Gerade in den genannten Branchen gibt es auch viele Menschen aus dem migrantischen Umfeld, die sich im Arbeitsrecht nicht so gut auskennen. Es ist oft gar nicht so einfach, Menschen in einem so prekären Umfeld zu erreichen. Das hängt auch mit der Struktur der Plattform-Ökonomie zusammen. Die Unpersönlichkeit des Ablaufs ist Teil des Problems. Als Beispiel: In unserer Firma spricht man, wenn ein Auftrag hereinkommt, mit einem Disponenten. Der merkt im Gespräch: Geht es dem Fahrer gut? Kann ich ihn ganz schnell wo hinschicken, oder gebe ich ihm noch etwas Zeit, vielleicht einen weniger stressigen Auftrag diesmal? Bei den Plattformen ist ein neuer Auftrag nur ein Ping auf dem Handy. Dadurch hat man nicht viel Kontakt mit Kolleg*innen und identifiziert sich auch weniger mit dem Job. Man ist nur ein kleines Zahnrädchen, das sich dreht, aber man hat keinen Überblick über die Gesamtheit der Arbeit und kann manche Dinge viel schwerer einschätzen: Was passiert da eigentlich? Wie kann ich mich organisieren? An welche Schrauben kann ich drehen? Wenn ich nur mit einer App Kontakt habe, gibt es keinen Chef, keine Chefin, der ich meine Sorgen und Änderungswünsche schildern kann und auch keine Kolleg*innen, mit denen ich mich zusammentun kann.
Was sind die Beweggründe der Menschen, die in solchen Plattform-Lieferdiensten arbeiten? Sind das Menschen, die keine anderen Arbeitsmöglichkeiten haben, oder gibt es aus Ihrer Sicht auch positive Aspekte, die Menschen dazu bewegen können, so eine Arbeit zu machen?
Die Bandbreite der Beweggründe ist, denke ich, groß, und es gibt durchaus Leute, die es als Studentenjob machen und zufrieden damit sind. Aber man muss Arbeitsbedingungen aus meiner Sicht auf die gesamte Belegschaft auslegen, damit keiner durchs Raster rutschen kann. Natürlich gibt es junge, sportliche Menschen, die teilweise auch sehr gute Löhne herausfahren. Das ist aber ab dem Zeitpunkt, wo man diese Arbeit als Haupterwerb betreibt, nicht mehr möglich. Es gibt zum Beispiel Leute, die 60–70 Stunden pro Woche fahren, dafür ein E-Bike leasen und das auch noch abzahlen müssen. Das ist übrigens auch ein Grund, warum Personen als freie Dienstnehmer*innen arbeiten – weil sie dann eine unbegrenzte Stundenanzahl arbeiten können, auch über die normale 40-Stunden-Woche hinaus. Der Sinn unseres Arbeitsrechts sollte aber sein, dass alle von geregelten Arbeitszeiten gut leben können und nicht 60–70 Stunden arbeiten müssen zum Überleben.
Was wären denn Empfehlungen Ihrerseits vor diesem Hintergrund? Mit welchen Maßnahmen können Unternehmen faire Arbeitsbedingungen sicherstellen?
Grundsätzlich ist wahrscheinlich die Frage, von welcher Seite man ein Unternehmen aufzieht. Sage ich als Unternehmen: „Diesen Service möchte ich gut machen und darauf einen Betrieb aufbauen.“, oder habe ich eine Unternehmensphilosophie, in der es zählt, dass man mit einer Marktlücke so viel Geld verdient wie möglich. Dann wird es mit dem Einhalten des Arbeitsrechts natürlich schwierig, weil man Investoren hat und schnell wachsen muss. Wenn man die Zeit und den Willen hat, langsam und organisch zu wachsen, ist die Vereinbarkeit mit dem Arbeitsrecht viel einfacher. Als kleiner oder mittelständischer Betrieb kann das Hochhalten von Arbeitsrechten auch ein Schutz gegen die großen Plattformen sein, weil preislich zu konkurrieren ohnehin fast unmöglich ist und es viele Menschen gibt, die Wert auf die faire Behandlung von Arbeitnehmer*innen legen. Es ist eine Möglichkeit für kleine und mittelständische Betriebe, sich so ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen, Service in guter Qualität anzubieten und bewusst nicht dieses Lohn- und Qualitätsdumping zu betreiben.
Wenn Sie auf Ihre persönliche Arbeitssituation schauen, würden Sie sagen: Das ist gute Arbeit, die ich gerne mache?
Ja, ich würde meine Arbeit als meinen Traumjob bezeichnen.
Christoph Leuchtenmüller ist Betriebsrat beim Grazer Fahrradkurierunternehmen Pink Pedals.