|
25.10.2023
Wohlstand aus sozial-ökologischer Perspektive
Autor: Sebastian Thieme
Die Kritik daran, Wohlstand am Bruttoinlandsprodukt zu messen, findet sich mittlerweile in vielen wirtschaftstheoretischen Lehrbüchern. Teils werden, wie bei Mankiw und Taylor (2021), alternative Wohlstandsmaße erwähnt (zum Beispiel der Genuine Progress Indicator). Lehrbücher von Fachleuten der heterodoxen Ökonomik wie etwa Bontrup und Marquardt (2021) sind diesbezüglich systematischer und ausführlicher (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Wohlfahrtsmessung & Alternativen bei Bontrup/Marquardt (2021). Quelle: Eigene Darstellung
Gemein ist diesen Darstellungen, dass Wohlstand breiter gefasst wird: Je nach Messkonzept werden Aspekte erfasst, die im BIP nicht berücksichtigt werden, zum Beispiel die Kosten der Umweltverschmutzung, Bildungsstand oder Gesundheitszustand. Gemeinsam ist diesen Messkonzepten auch die Quantifizierung dessen, was als »Wohlstand« betrachtet wird. Wohlstand soll vermessen, in seinen quantifizierten Formen verglichen, gestaltet werden. Das lässt diese Messkonzepte ebenfalls abstrakt wirken. Teils haben diese auch einen reduktionistischen Charakter, weil eben nur das in den Blick genommen wird, das sich quantifizieren lässt. Schwierig und offen bleibt, wer denn eigentlich festlegt, was Wohlstand ist. Wer legt mit welcher Legitimität fest, wie Wohlstand abgebildet wird? Wer entscheidet aus welchen Gründen, welche Variablen in solche Messkonzepte als »wohlstandsrelevant« zu berücksichtigen sind?
Zusammengenommen steht dabei der Eindruck im Raum, dass die Probleme, die sich mit der ursprünglichen Kritik am BIP als Wohlstandsmaß verbinden, nicht wirklich gelöst, sondern lediglich verlagert sind. Teils entstehen neue Probleme (z. B. hinsichtlich der Kommunikation, Übersichtlichkeit und Verständlichkeit bei Multi-Indikatoren).
Ein im Vergleich dazu etwas ungewöhnliches Verständnis von Wohlstand findet sich in der sozial-ökologischen Perspektive, die Adelheid Biesecker und Stefan Kesting (2003) in ihrem Lehrbuch zur Mikroökonomik präsentieren.
Die sozial-ökologische Perspektive
Die Besonderheit der sozial-ökologischen Perspektive von Biesecker/ Kesting (2003) beginnt bereits in dem ungewöhnlich breiten Verständnis von ›Wirtschaft‹. Sie unterscheiden verschiedene Sphären des Wirtschaftens – neben einer Marktökonomie auch eine Versorgungsökonomie (Hauswirtschaft) und eine Sozialwirtschaft (Non-Profit-Sektor) –, in denen jeweils auch unterschiedliche Logiken und Koordinationsmechanismen existieren (siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Die eingebettete Ökonomie. Quelle: Abb.2 mit gleichem Titel bei Biesecker/ Kesting (2003: 13)
Während das Wirtschaften in der Sphäre der Marktökonomie über Konkurrenz und die Maximierung des Eigennutzens organisiert ist, wird es in der Versorgungsökonomie über Sprache, Normen (Verantwortung) usw. und Kooperation organisiert und am »guten Leben« ausgerichtet.
Darüber hinaus findet ›Wirtschaft‹ auch nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist in eine natürliche Mitwelt – in die Natur – eingebunden. Damit sind die bekannten »planetaren Grenzen« gemeint. Das wird im Lehrbuch später besonders deutlich, wenn es um die Tragekapazitäten der Natur geht: »Die für die Erzeugung von Gütern auf der Erde zur Verfügung stehenden Ressourcen und die Fähigkeit der Natur unseres Planeten zur Aufnahme und Verarbeitung von Schadstoffen ist begrenzt.« (Biesecker/ Kesting 2003: 425).
Sozial-ökologischer Wohlstand
Die eigentlich zentrale Aufgabe der Ökonomik sehen Biesecker/ Kesting (2003: XV) darin, sich mit Wohlfahrtseffekten und der Wohlfahrt zu beschäftigen. Was heißt nun aber Wohlstand bzw. Wohlfahrt aus sozial-ökologischer Perspektive?
Grundsätzlich lässt bereits das breite Verständnis von ›Wirtschaft‹ erahnen, dass auch der Wohlstand aus sozial-ökologischer Sicht breiter gefasst ist. Ganz bewusst wird zum Beispiel auf die Bedeutung des Non-Profit-Sektors und der freien Wohlfahrtsverbände für den Wohlstand hingewiesen. Auch die Versorgungstätigkeiten im Haushalt (Versorgungsökonomie) werden als selbstverständlich relevant für die Wohlfahrt angesehen: »Die besondere Produktivität der Versorgungsarbeit trägt […] zur gesellschaftlichen Wohlfahrt bei - durch Schaffen von individuellen Lebensmöglichkeiten und gesellschaftlicher Stabilität.« (Biesecker & Kesting 2003: 205)
Eine besondere Rolle kommt ›dem‹ Staat zu, der als »entscheidend an der Wohlfahrtsproduktion für seine Bürger« angesehen wird:
»Erstens ist er […] direkter Produzent von Wohlfahrt, zweitens bietet er Räume für Prozesse der Bestimmung und Bewertung von Wohlfahrtskriterien, und drittens greift er regelnd und machtausgleichend in Prozesse der Wohlfahrtsproduktion ein, die zumeist auch Interessenkonflikte beinhalten.« (Biesecker & Kesting 2003: 451)
Genau dort zeigt sich ein sehr wichtiges Moment, das diese Perspektive auf Wohlstand von anderen Perspektiven unterscheidet: Wohlstand wird umfassend zu sich selbst rückgebunden. »Wohlstand« beschreibt damit nicht nur den materiellen Lebensstandard, sondern er beinhaltet die Prozesse des Nachdenkens, Bewertens und Entscheidens darüber, was »Wohlstand« eigentlich sein soll. Wohlstand hat sich damit auch selbst zum Gegenstand.
Dies wiederum ist keineswegs eine neue Einsicht. Biesecker/ Kesting (2003) verweisen als eine Grundlage dieser Überlegungen auf den Alt-Institutionalismus bzw. Kritischen Institutionalismus. Dort sehen sie dem Grundgedanken eines partizipativen, demokratischen Elements verankert, kraft dem die Bürgerinnen und Bürger daran zu beteiligen wären, zu definieren, was Wohlstand sei:
»Für den Kritischen Institutionalismus ist die demokratische Beteiligung der Bürgerinnen an der Definition dessen, was sie als ihre Wohlfahrt begreifen, selbst Teil der Wohlfahrtsentstehung.« (Biesecker & Kesting 2003: 439–440)
Es wundert wenig, dass Biesecker/ Kesting (2003) im weiteren Fortgang ihrer Argumentation an die Integrative Wirtschaftsethik von Peter Ulrich anknüpfen. Dort steht der öffentliche und offene Diskurs im Zentrum, der eine Argumentationsintegrität erfordert (zum Beispiel die Bereitschaft zur Reflexion und tatsächlich aus Einsicht zu handeln).
Wohlstand aus sozial-ökologischer Perspektive ist damit weniger erfolgsorientiert, sondern wird prozessorientiert gedacht. Es ist nicht ausgeschlossen, Messkonzepte für Wohlstand zu entwickeln und Wohlstand dann auch zu quantifizieren sowie zu berechnen. Die dafür zu Grunde liegenden Annahmen und Variablen, wie auch das elementare Verständnis von Wohlstand selbst sind aber in einem Verständigungsprozess zu ermitteln.
Zusammenfassung
Die sozial-ökologische Perspektive auf Wohlstand von Biesecker/ Kesting (2003) basiert auf einem breiten Verständnis von ›Wirtschaft‹, das neben der Sphäre ›Marktwirtschaft‹ auch die Versorgungsökonomie (Hausarbeit), die auf Gemeinnützigkeit konzentrierte Sozialwirtschaft und ›den‹ Staat als relevant für Wohlstand berücksichtigt. ›Wirtschaft‹ ist zudem in eine natürliche Mitwelt eingebettet. Daher ist auch Wohlstand abhängig von ihr. Eine sozial-ökologische Perspektive muss deshalb nicht wachstumsfeindlich sein. Aber sie hält dazu an, sich die natürlichen Grenzen bewusst zu machen, auf die jegliches Wirtschaften stößt.
Was ist nun aber sozial-ökologischer Wohlstand? Das wiederum wird nicht einfach festgelegt oder einer Definition entnommen und dann berechnet. Stattdessen ist Wohlstand aus einer sozial-ökologischen Perspektive heraus zunächst über einen deliberativen (demokratischen) Verständigungsprozess zu erwägen und zu entscheiden. Damit wiederum verbindet sich die Notwendigkeit einer Expertise über die Bedingungen und Voraussetzungen gelingender Diskurse sowie über Praxis und Praxisformen des Dialogs. Das klingt etwas ungewöhnlich, nach Zukunftsmusik, utopisch gar? Nun, vielleicht hilft hier der Hinweis von Biesecker/Kesting (2003: 445) weiter, dass bereits Formen deliberativer Verständigungsprozesse existieren, zum Beispiel Tarifauseinandersetzungen, öffentliche Anhörungen, Schöffengerichte und Enquete-Kommissionen. Offenbar ist der Schritt zu einem Perspektivwechsel also doch nicht so weit, wie es scheint?
Literaturhinweis: Adelheid Biesecker/ Stefan Kesting (2003): Mikroökonomik. Eine Einführung aus sozial-ökologischer Perspektive.