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30.8.2023
Am liebsten Nichtstun
Buchrezension zu „Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit“ von Byung-Chul Han
Autorin: Juliane Fink
Es ist August, und alle sind auf Urlaub: im Idealfall fünf Wochen im Jahr zum Füße-Hochlegen, ohne Verpflichtungen Entspannen, einfach Nichtstun1 – und der beste Zeitpunkt, um Byung-Chul Hans Abhandlung über die Untätigkeit zu lesen, die er als „Glanzform der menschlichen Existenz“ beschreibt. Diese Aussage erscheint im Kontext tagespolitischer Diskussionen über Wochenarbeitszeit, der Verknüpfung von Sozialleistungen mit der Bereitschaft, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, und der Abwertung derer, die nicht arbeiten können oder wollen, geradezu provokativ. In „Vita Contemplativa“ ist Untätigkeit allerdings keine Verweigerungshaltung, sondern ein eigenes, kontemplatives Vermögen. Dieses Moment stellt der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han eindrücklich dar, und das Buch liest sich wie ein gleichzeitig kurzweiliges und intensives Lexikon über das Motiv der Untätigkeit in Kunst, Philosophie und Literatur.
Han regt darin eine Haltung an, die durch eine Politik der Untätigkeit geprägt ist, sich dem Zwang zur Arbeit und Leistung widersetzt und genuin freie Zeit (im Gegensatz zur auf die Erholung von Arbeit bezogene Freizeit) als höchstes Gut darstellt. Dabei führt er die Leser*innen innerhalb von wenigen Seiten vom Flaneur („Gemächliches Herumgehen ist gegenüber dem Hingehen, Hinrennen oder Marschieren ein Luxus.“ S. 13), über den „Zwang zur Tätigkeit als effizientes Herrschaftsmittel“ (S. 28) bis hin zum kontemplativen Schauen als höchstes Glück in Antike und Mittelalter (S. 66/67). Und das sind nur einige wenige Aspekte von Untätigkeit, die das Buch thematisiert; es geht zudem auch ums Feuer als Gegenstand der Ruhe und Träumerei (S. 14), um Masanobu Fukuokas „Nichts-tun-Landwirtschaft“ (S. 38) und natürlich um Hannah Arendts „Vita Activa“, auf das sich Han intensiv bezieht.
Trotz dieser fast schwindelerregenden Vielschichtigkeit – und obwohl es am Klappentext angekündigt wird – wird der politischen Seite der Untätigkeit leider etwas wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Inwiefern das kontemplative Moment im Sinne des „Degrowth“ in den Kontext der Klimakrise gesetzt werden könnte, oder welche Sprengkraft das Nichtstun haben kann – gerade, wenn es, wie beispielsweise in Streiks, als Verweigerung eingesetzt wird – wird zwar angeschnitten, aber hätte es durchaus verdient, genauer betrachtet zu werden. Auch die potentielle gesellschaftliche Neubewertung von Erwerbsarbeit durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre interessant gewesen.
„Vita Contemplativa“ ist trotz seines Themas keine Urlaubslektüre. Es ist eine dichte Abhandlung über das Tun und Nichtstun in der Philosophie, der Literatur und der Kunst sowie in unserem Alltag. Es macht die Kontemplation als das Humanum fest, das uns von Maschinen, deren einziger Zweck ist, produktiv in Bewegung zu sein, unterscheidet. Und auch wenn Han das Nichtstun an manchen Stellen fast alternativlos erhöht2, macht das Buch Lust, eine kollektive Lebensweise zu hinterfragen, die Tat und Produktion zum Ideal erhoben hat. Es ermutigt, sich dem Drang nach Tätigkeit zu entziehen, sich dem Glanz der Untätigkeit hinzugeben und ab und zu dem Gras beim Wachsen zuzusehen.
Friedlich dasitzen, ohne etwas zu tun,
Der Frühling kommt
Und das Gras wächst von selbst.3
1 Inwiefern diese Idealvorstellung von Urlaub der Realität entspricht, wenn man Care-Verpflichtungen nicht außer Acht lässt, sei dahingestellt.
2 „Das wahre Glück verdankt sich dem Zweck- und Nutzlosen, dem bewusst Umständlichen, dem Unproduktiven, dem Umweghaften, dem Ausschweifendem, dem Überflüssigen, den schönen Formen und Gesten, die zu nichts nutzen und zu nichts dienen.“ (S. 13)
3 Ein Haiku aus Roland Barthes Mut zur Faulheit, zitiert in: Vita Contemplativa, S. 24.
Das Buch "Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit" von Byung-Chul Han ist 2022 bei Ullstein erschienen.