|
18.7.2023
Alle Zeit oder keine Zeit?
Buchrezension zu "Alle Zeit" von Teresa Bücker
Autorin: Christina Diewok
Das Gezerre um die Arbeitszeit ist in den letzten Monaten in neuer Intensität im Gang. Während es auf der einen Seite Sorgen um das Wirtschaftswachstum generell und die personelle Unterversorgung von essentiellen Gesellschaftsbereichen gibt (Spitäler, Schulen, Pflege), werden andererseits Forderungen nach mehr Work-Life Balance zunehmend forscher – sei es als individuelle Wünsche gerade von jüngeren Menschen oder in Form einer generellen Arbeitszeitverkürzung von Seiten der Arbeitnehmer:innenvertretungen. Es dauert jedenfalls nicht lange, und man befindet sich mitten in spezifischen Diskussionen, oberflächlichen Zuschreibungen und pauschalen Vorwürfen. Worauf wir uns wohl einigen können: Diese Debatten sind gekommen um zu bleiben. Sie zeigen tiefgreifende Veränderungen an, und so müssen neue Konzepte von Lebensführung bis Sozialstaat ausgehandelt werden.
Da kommt Teresa Bückers Buch „Alle Zeit“ sehr gelegen, denn bevor man sich in die Untiefen der Pro‘s und Contra‘s rund um Leistung, Leistbarkeit und Luxus begibt, lohnt es sich, ein paar Grundsatzfragen zu stellen: Warum haben so viele von uns so oft das Gefühl, dass die Zeit niemals reicht? Haben wir es hier mit individueller Unzulänglichkeit oder systemischen Ursachen zu tun? Was meinen wir, wenn wir von Arbeit(szeit) reden, und ist alles andere wirklich Freizeit? Wenn man überlegt, welche Aufgaben in einer Gesellschaft zu erledigen sind, von wem und unter welchen Bedingungen, warum fokussiert die Diskussion fast ausschließlich auf „Wertschöpfung erzielen“ und „materielle Bedürfnisse decken“? Wenn Zeit vor allem Geld ist, warum werden dann besonders wichtige Aufgaben wie Sorgearbeit und Erziehung, zwischenmenschliche Begegnung und persönliche Beiträge für das Wohl der Gesellschaft nicht nur nicht nach diesem Maß bewertet, sondern oft nicht einmal mitbedacht oder -diskutiert?
All diesen und noch mehr Facetten unseres Denkens, Redens und Erlebens von Zeit widmet sich dieses Buch und spannt dabei einen Bogen vom individuellen bis zum gesellschaftlichen Organisieren unserer Zeit. Es zeigt, wie stark Zeitfragen auch Machtfragen sind, und welche Neubewertungen uns helfen könnten, den aktuellen Anforderungen besser gerecht zu werden. Vieles davon ist nicht neu, die Zusammenschau und Verdichtung unterschiedlichster Aspekte im Zusammenhang mit Zeitverwendung und -bewertung ergibt aber einen gewissen Sog, der einen plötzlich den eigenen Alltag mit anderen Augen sehen lässt. Dabei ist das Buch gut lesbar und regt durch ausführliche Fußnoten an vielen Stellen zum tieferen Eintauchen ein.
Hat man den Blick aufs Grundsätzliche erst einmal eingeübt, tun sich weitere Bezüge auf – etwa zum aktuellen ksœ-Forschungsprojekt „Wohlstand neu definieren“, zu den aus der Katholischen Soziallehre herleitbaren Argumenten zum bedingungslosen Grundeinkommen und zur laufenden ksœ-Podcast-Staffel „Gute Arbeit“.
Schade nur, dass die Beleuchtung des Spannungsverhältnisses Zeit und ökologische Transformation im Buch nicht weiter vorkommt, denn auch da liegen die Fragestellungen auf der Hand: Brauchen wir für die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen andere Zeitkontingente, etwa für Eigenleistung statt Konsum oder Entschleunigung allgemein? Dazu hätte ich gerne mehr gelesen.
Dafür lädt die Lektüre auch auf der persönlichen Ebene zu neuen Erkenntnissen ein: Das Kapitel „Freie Zeiten“ (S. 182 ff) regt dazu an, die unterschiedlichen Zeitblöcke, die das eigene Leben ausmachen, viel genauer zu benennen als nur Arbeit vs. Freizeit. Freizeit ist mit den meisten und vor allem den unterschiedlichsten Erwartungen belegt: Freundschaften pflegen, Familie leben, Zeit für Kultur, Ehrenamt, aber auch Nachdenken, Gefühle verarbeiten und Nichts-tun. Im Gegensatz zu diesem Füllhorn der Möglichkeiten erleben wir neben Arbeit jedoch eher Alltagszeit, also „unterschiedliche Aufgaben, die täglich oder zumindest ab und an erledigt werden sollten. Lose gebundene Zeiten neben dem Beruf […] wie z.B. Einkaufen, Hausarbeit, Reparaturen…“ (S. 190); Zeit, in der wir Sachbearbeiter:in des eigenen Lebens sind und meistens eher weit entfernt vom „guten Leben“.
Und noch eine Definition lernen wir: Zeitkonfetti, also „kurze Spannen freier Zeit [...], aus denen sich keine sinnvoll nutzbaren Zeiten zusammensetzen lassen. Wir haben zwar Freizeit, aber aufgrund ihrer Fragmentierung kann sie nur eingeschränkt oder gar nicht genutzt werden für Dinge, die wir in freien Zeiten gerne tun würden“ (S. 198). Die Schilderung der Alltags-Situationen voller Zeitkonfetti sind lebensnah und leichtfüßig, und das erleichtert die Einsicht, dass die unterschiedlichen Betrachtungen und Benennungen von Zeit(qualitäten) keine verkopften, weltfremden Fleißaufgaben sind, sondern eine Voraussetzung dafür, genau formulieren zu können, wie wir leben wollen und welche Rahmenbedingungen wir dafür brauchen.
P.S.: Im 2. Halbjahr 2023 wird die Statistik Austria im Rahmen der vierten Zeitverwendungserhebung in Österreich zum ersten Mal nach 15 Jahren neue Daten präsentieren. Für die Einordnung der Ergebnisse und der zu erwartenden Diskussionen bildet Teresa Bückers Buch eine ideale Grundlage.
Das Buch "Alle Zeit" von Teresa Bücker ist 2022 bei Ullstein erschienen.