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4.6.2020
Alles wird gut? Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
Autor: Ulrich Schönbauer
Gerade in Krisenzeiten sehnen sich viele eine neue Übersichtlichkeit herbei. Oder postulieren den baldigen Status quo ante. Vielleicht liegt die Zukunft auch darin, dass wir nachher mehr Dinge selbst in die Hand nehmen werden.
Die Zukunft als Neo-Biedermeier
Alles wird gut? Ja hoffentlich! Aber wie gut? Und wodurch? Nichts bewegt die Menschen derzeit mehr als die Frage, wann „Social Distancing“ wieder aufgehoben wird. Wann „die Systeme“ wieder hochgefahren werden. Wann wir endlich wieder zur Normalität zurückkehren.
Geht es nach dem Zukunftsforscher Matthias Horx, ist die Normalität, wie wir sie kannten, unwiederbringlich vorbei. In seinem Essay „Die Welt nach Corona“ vertritt er die Auffassung, dass wir uns gegenwärtig an einer Weggabelung befinden. Bifurkation nennt er es. Die lineare Prognose von Zukunft ist zu Ende, weil sich das Betriebssystem der Gesellschaft fundamental ändert. Millionenfach wurde dieser Beitrag angeklickt und geteilt. Alleine das zeugt von einem universellen Bedürfnis nach Orientierung und Neu-Orientierung.
Horx bedient sich in seiner Vorschau der Methode der Rückschau: Was werden wir sehen, wenn wir, sagen wir einmal in einem halben Jahr, auf die jüngsten Entwicklungen zurückschauen?
Es wird zu einer Neubewertung des Sozialen kommen. „Social Distancing“ erzeugt eine neue Form der sozialen Nähe. Eine neue Höflichkeit und ein neues Bewusstsein dominieren den Umgang miteinander. Und Solidarität, wenn man sich für den Nachbarn mitverantwortlich fühlt. Auch Arbeitskolleg*innen gewinnen im Zeitalter des Homeoffice an Individualität: Wenn bei der Videokonferenz auf einmal die Katze durch das Bild streift. Oder zur Abwechslung mal die Kinder an den Sesseln sägen…
Ändern werden sich auch die Spielregeln der Weltwirtschaft. Die völlig überzogene, über den gesamten Erdball verzweigte Wertschöpfungskette der Just-in-time-Produktion wird sich überlebt haben. GloKAliserung heißt das neue Zauberwort. Lokalisierung des Globalen. Örtliche Netzwerke und Produktionen, eine Renaissance des Handwerks, Zwischenlager und Reserven, kurzum „Small is Beautiful“ – aber jetzt wirklich! Und im Zentrum steht die große alte Frage: Was ist der Mensch? Und was sind wir füreinander?
Satellitenbilder werden uns die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. Der CO2 -Ausstoß der Menschheit wird zum ersten Mal gesunken sein. Das wird etwas mit uns machen. In der Covid-19 Impact-Analyse konstatiert das Horx‘sche Zukunftsinstitut einen Innovationsboost für Nachhaltigkeit. Die Natur wird zum Maßstab des Handelns. Und Horx schließt seinen Beitrag mit den Worten: „Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt. Aber sie kann sich neu erfinden. System reset.“
Alles wird wie es war
Der weltbekannte Virologe Norbert Bischofsberger glaubt hingegen nicht, dass sich durch Corona fundamental etwas ändern wird. Denn „schlussendlich wird alles verblassen und sich in der Geschichte verlieren. Wir werden, das ist nur allzu menschlich, zu unseren alten Gewohnheiten zurückkehren.“
Nicht ohne Häme setzt sich der Soziologe Armin Nassehi mit Ansätzen, die einmal mehr die Wiedergewinnung der Innerlichkeit entdecken, auseinander. Denn wieso erst jetzt? Wieso braucht es für die Selbstfindung erst eine Krise. Nassehi sieht in der Zerstreuung eine zivilisatorische Errungenschaft. Und das Mittel dafür ist der Konsum. Fährt man ihn herunter, wie es gerade geschieht, so nimmt man den Menschen die Möglichkeit der „Langeweilebewirtschaftung“. Und kryptisch deutet Nassehi an, dass Langeweile die Quelle von „schlimmen Dingen“ ist.
Solidarität? Nicht mehr als eine Zeiterscheinung. Sollte sich der Kampf um die Ressourcen verstärken, so bleibt die Solidarität als Erstes auf der Strecke. Nicht einmal für die Bewältigung der Klimakrise gibt Corona etwas her. Denn in Analogie müssten wir uns mit der Suspendierung der Freiheitsrechte dauerhaft abfinden. Selbst die Globalisierung wird sich kaum verändern. Wertschöpfungsketten sind nun einmal global und werden es bleiben. „Darum ist die Idee, wieder kleiner und gemütlicher zu werden, eine Illusion.“
Bei aller Unterschiedlichkeit – der eine sieht schon eine Zeit des Neo-Biedermeiers heraufziehen, der andere einen kathartischen Konsum-Boost nach der Krise – teilen sowohl Horx als auch Nassehi die Einschätzung, dass die Kompetenz zur Kommunikation im virtuellen Raum eine zentrale Kulturtechnik bleiben wird. So wie Rechnen, Schreiben und Lesen. Der Gewinn an Autonomie durch Homeoffice lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Und auch im Privaten hat die virtuelle Vernetzung eine neue Dimension der Nähe eröffnet. Tele- und Videokonferenzen haben ihre Feuertaufe bestanden, E-learning wird künftig vermehrt eingesetzt werden und Homeoffice wird für viele selbstverständlich bleiben. Man hat gelernt, dass es auch ohne ausgeprägte hierarchische Kontrolle geht.
Noch etwas eint die Ansätze von Horx und Nassehi: Der Mensch ist bei beiden nicht Pilot sondern nur Passagier seiner Zukunft. Nicht Spieler, sondern Ball. So wie weise Staatenlenker den Menschen durch die gegenwärtige Krise steuern, so werden sie ihm auch seine Zukunft eröffnen. Die Philosophin Isolde Charim bemüht dafür sogar den Vergleich von Hirte und Herde. Frei nach Thomas Hobbes muss sich der Mensch schon allein aus Selbstschutz dem staatlichen Souverän unterwerfen. Gerade in Krisenzeiten scheint dieses Staatsverständnis geradezu alternativlos. Ist es das wirklich? Für jetzt und in alle Ewigkeit?
Ändern wir das Betriebssystem
Etwa zur gleichen Zeit, zu der Hobbes seine Staatstheorie formulierte, entwickelte Baruch de Spinoza ein völlig anderes Konzept des Gemeinwesens: die „multitudo“. Demnach brauchen Menschen kein Zentrum und keine Hierarchie, sondern können sich zusammenschließen und trotzdem in ihrer Vielfalt bestehen bleiben. Handlungsfähig werden sie schon allein durch die Hinwendung einzelner zu gemeinsamen Themen. Ein Ansatz, der später von Michael Hardt, Antonio Negri und Paolo Virno mit ihrem Plädoyer für die „multitude“ wieder aufgegriffen wird. Dieses Konzept bietet die Möglichkeit einer souveränen Selbstorganisation, die für die Komplexitätsbewältigung weit besser geeignet ist als die tradierten Command-and-Control-Systeme. Unter dem Titel „Viele als Viele: Das Potenzial der Multitude für Unternehmen“ demonstriert der Unternehmensberater Johannes Ries, wie dadurch die Teamzusammenarbeit in Unternehmen revolutioniert werden kann. Auf der Basis einer Open Space Veranstaltung bringen die Teilnehmer*innen zu einem übergeordneten Thema Vorschläge ein, die sie in einer Kleingruppe vertiefen möchten. Ähnliche Vorschläge werden zusammengefasst, sodass sich Schritt für Schritt Arbeitsgruppen bilden. So werden schlussendlich Angebote bereitgestellt, wo jede*r dort andocken kann, wo es sie oder ihn besonders hinzieht. Diese spontane Herausbildung von attraktiven Schwerpunkten bildet die Basis für Motivation, Kreativität und Produktivität, die auf Eigeninitiative beruhen.
Die Open-Space-Logik ist nicht neu. Viele Unternehmen verwendeten dieses Format schon bisher vor allem bei Change-Projekten. Oder sie arbeiteten in anderen Zusammenhängen mit „teilautonomen Gruppen“, allerdings nur so lange die klassischen hierarchischen Autoritätsverhältnisse nicht in Frage gestellt werden. Dazu ein kleines praktisches Beispiel zur Implementierung von nachhaltiger Unternehmensführung: Nach einer kurzen Einführung in die Thematik sollen die Pioniere in ihrem Wirkungsbereich potenzielle Mitstreiter*innen werben. Die Gruppe wächst und mit jedem Treffen werden die Aufgaben konkreter: Alle Teilbereiche und Prozesse sollen hinsichtlich der Interventionsmöglichkeiten für Nachhaltigkeit untersucht werden. Auf Basis dieser Analyse wären sodann die praktischen Schritte zu setzen. Damit kommt das Projekt aber auch schon zu seinem Ende.
Dieser Projektverlauf ist nicht ungewöhnlich, ein ähnliches Schicksal erleiden die meisten Change-Projekte. Das hat einen einfachen Grund: Arbeitsgruppen können nicht unmittelbar auf die Unternehmensroutinen Einfluss nehmen, sondern die Ergebnisse sind bestenfalls Teil eines Fundus, aus dem sich Führungskräfte nach eigenem Gutdünken bedienen.
Was braucht es also, um im Sinne der „multitude“ wirksam zu werden? Per definitionem: „Singularitäten, die gemeinsam handeln“. Handeln! Genau darum geht es! Die Mitglieder sind nicht nur für die Entwicklung von Ideen und Konzepten verantwortlich, sondern sie müssen damit Impact erzielen. Bestens geeignet dafür ist die Methode der Communities to Success: Die Mitglieder überlegen sich, wo sie konkret wirksam werden wollen. Und das auch können! Das heißt, ihr Handeln muss eine zumindest kleine Veränderung bewirken. Das geschieht durch die gemeinsame Analyse der erfolgsrelevanten Schlüsselspieler*innen. Ist deren Entscheidungslogik einmal transparent, können in einem nächsten Schritt Konzepte entwickelt werden, wie diese Key Player im Sinne des eigenen Anliegens beeinflusst werden können. Sollte nicht eher dieses gezielte systemische Intervenieren in Zukunft unsere Handlungsmaxime bestimmen? Braucht es nicht viel eher diese an der „multitude“ orientierte Neuprogrammierung unserer Entscheidungsfindungsprozesse als dieses in den schönsten Farben gemalte Neo-Biedermeier?
Der Zukunftsforscher Matthias Horx stellte die große alte Frage: „Was ist der Mensch? Und was sind wir füreinander?“ Stimmt schon. Aber geht es nicht eher um Fragen wie „Wozu gibt es unsere Organisation? Welchen Nutzen wollen wir stiften? Und wie wollen wir uns dafür organisieren?“ Es braucht eine grundlegende Änderung des Betriebssystems. Die nun vorhandenen Fertigkeiten in der Online-Kommunikation bieten beste Voraussetzungen dafür. Alles wird gut, wenn man es tut!