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16.3.2023
Was ist »Wohlstand«?
Autor: Sebastian Thieme
Es gibt wohl kaum Menschen, die sich nichts unter »Wohlstand« vorstellen können. Allerdings mögen die jeweils konkreten Vorstellungen von Person zu Person verschieden sein. Zudem können zum Beispiel »Wohlfahrt« oder »Gemeinwohl« als Synonyme für »Wohlstand« verwendet werden.
Für eine Klärung mag dann als erste Näherung helfen, einen Blick in den Duden (13.03.2023) zu werfen: Dort gilt »Wohlstand« als »Maß an Wohlhabenheit, die jemandem wirtschaftliche Sicherheit gibt«, und wird assoziiert mit einem hohen Lebensstandard. Zudem werden Synonyme angegeben, die deutlich in einem ökonomischen Kontext stehen, zum Beispiel: »Besitz[tümer]«, »Gelder«, »Goldregen«, »Güter«, »Kapital«, »Mittel«, »Reichtum«, »Schätze«, »Vermögen« und »Vermögenswerte« sowie – bildungssprachlich – »Prosperität«. Davon ausgehend lässt sich tiefer bohren und fragen, wie wirtschaftstheoretische Nachschlagewerke (Handbücher, Lexika usw.) mit dem Begriff umgehen.
Dabei fällt auf, dass der Begriff »Wohlstand« eher in älteren kritischen (heterodoxen) Nachschlagewerken – wie im Wörterbuch zur politischen Ökonomie (1973) – oder in jüngeren Werken wie Gablers Wirtschaftslexikon geführt wird. In Gablers Wirtschaftslexikon (13.03.2023) findet sich die Unterscheidung nach materiellem und immateriellem »Wohlstand« – Wohlhaben und Wohlbefinden. Im Wohlstand zu leben bedeutet demnach, dass »man in wirtschaftlicher Hinsicht zumindest abgesichert oder sogar überdurchschnittlich ausgestattet ist und eine gewisse Macht über die Umstände hat«. »Wohlstand« wird als Aspekt der Kultur angesehen, mit »Glück« (im Sinne der Glücksforschung) und als Voraussetzung oder Bestandteil eines guten Lebens assoziiert.
Häufiger ist in ökonomischen Nachschlagewerken das Synonym »Wohlfahrt« anzutreffen. In der Regel existiert dann aber kein eigenständiger Eintrag dazu. Stattdessen ergibt sich das Begriffsverständnis aus Beiträgen zu Begriffen wie »Wohlfahrtsfunktion« oder »Wohlfahrtsstaat«. »Wohlfahrt« ist dann in eine abstrakte (standard-) ökonomische Sicht eingefasst und in einer formalen Wohlfahrtsfunktion definiert. Diese hängt von den verfügbaren Gütern, den damit verbundenen Nutzenvorstellungen und deren Gewichtungen ab. Damit verbindet sich dann die Frage der Wohlstandsoptimierung. Als Inputfaktoren (Ausstattung mit Kollektivgütern wie Theaterplätze, Bettenzahl in Krankenhäusern usw.) oder Outputindikatoren (Krankenstand, Unfallhäufigkeit usw.) finden zwar auch immaterielle Faktoren eine Anerkennung. Aber methodisch überwiegen die Bedenken, diese Faktoren berücksichtigen zu können (schlecht zählbar und verrechenbar usw.). Der ökonomische Blick bleibt aus ›Zwecksmäßigkeitsgründen‹ auf materielle Faktoren beschränkt. Wie »Wohlfahrt« konkret definiert ist, welcher Maßstab für Wohlstand angelegt wird usw., das alles sind ethische bzw. politische (normative) Fragen, die nach Ansicht vieler der gesichteten ökonomischen Nachschlagewerke eine normative Wohlfahrtsökonomik bearbeiten soll oder von ›der‹ Politik zu beantworten sind. Wohlfahrtsökonomik reduziert sich damit auf eine rein ›positive‹ Analyse des Wohlfahrtsoptimums unter als gegeben angesehenen Bedingungen. Es existieren zwar Diskussionen zu spezifischen methodologischen Fragen (kardinale vs. ordinale Nutzenmessung usw.). Aber letztlich bleibt die ökonomische Perspektive auf »Wohlfahrt« tendenziell mathematisch-formal, abstrakt und auf Güter, Gütermengen sowie ihre Nutzenstiftung und deren Optimierung konzentriert.
»Gemeinwohl« wiederum wird nicht in jedem ökonomischen Nachschlagewerk geführt und steht für das Interesse der Gemeinschaft. Der konkrete Inhalt hängt davon ab, welche Gruppen den Begriff verwenden und mit welcher Macht sie ausgestattet sind, um ihre Gemeinwohlziele durchzusetzen. Über die verschiedenen Beiträge, die den Begriff führen, wird der enge Zusammenhang von »Gemeinwohl« mit der gesellschaftlichen Ordnung, mit Werten und Werturteilen betont. Dies führt zu einer Unbestimmtheit, die teils zu dem Urteil führt, es wäre umstritten, was »Gemeinwohl« sei. Teils wird kritisch vom »Leerformelcharakter« und von einer »Beschwichtigungsformel« gesprochen.
Abbildung: Überblick über »Wohlstands«-Begriffe & Synonyme in ökonomischen Nachschlagewerken (ausgewählte Beispiele). Quelle: eigene Darstellung (via NodeXL)
Im Überblick über die verschiedenen ökonomischen Wörterbücher zeigen sich auch bestimmte Auffälligkeiten.
- Es wird schon länger darüber diskutiert, wie »Wohlstand« zu messen sei (zum Beispiel im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft von 1982). Das ist zwar verbunden mit der Frage, wie sich »Wohlstand« definiert, hat aber auch mit methodischen Fragen zu tun, die vermutlich auch für aktuelle Diskussionen relevant bleiben.
- Die Definition von »Wohlstand« und seiner Messung ist mit ethischen (normativen) Aspekten verbunden. Die moderne ökonomische – positive – Wohlfahrtsökonomik hält sich von der Beschäftigung mit diesen Fragen fern und delegiert dies an andere Disziplinen oder ›die‹ Politik. Das ändert aber nichts an der Notwendigkeit, sich qualifiziert mit ethischen Fragen und Problemen auseinandersetzen zu müssen. Das gilt im Besonderen, wenn der dominanten ökonomischen Perspektive auf »Wohlfahrt« eine Rechtfertigungsfunktion für eine »kapitalistische Produktionsweise« attestiert wird. Aber selbst wer das nicht teilt, wird es als wirtschaftsethisches Problem begreifen, wenn nur marktwirtschaftlich verwertbare Güter in ein Wohlstandskalkül einfließen. Vereinzelt wird auf Zusammenhänge zwischen »Wohlstand« und (Wirtschafts-) »Wachstum« hingewiesen, was »Wohlstand« wiederum mit einem bestimmten Narrativ und bestimmten Werten verbindet. Die Relevanz solcher Narrative deutet sich auch in Einträgen zum »Wohlfahrtsstaat« an, wenn dort ein Ausbau des Sozialstaats damit assoziiert wird, die Belastungsgrenze des Sozialstaats zu überschreiten und die wirtschaftliche Stabilität einer Volkswirtschaft zu bedrohen.
- Es irritiert, dass zwar ein wohlfahrtsökonomischer Blick auf »Wohlfahrt« die Debatten dominiert, gleichzeitig aber – teils in ein und denselben Nachschlagewerken – »Wohlstand« im Zusammenhang mit »Wohlfahrtsstaat« oder »Wohlfahrtspflege« eindeutig mit sozialer (Ab-) Sicherung, mit Existenzsicherung und Grundversorgung assoziiert wird.
Vor diesem Hintergrund liefert bereits ein kurzer Überblick über ausgewählte jüngere und ältere ökonomische Nachschlagewerke interessante Einblicke in das Verständnis von »Wohlstand«, aber auch eine Reihe von zu klärenden Fragen. Zum Beispiel: Lässt sich »Wohlstand« mit »Reichtum« gleichsetzen? Ist »Wohlstand« mehr als Existenzsicherung? Wie verhält sich »Wohlstand« zu Themen wie »Zeitsouveränität« und »Zeitwohlstand«, »Care«, »Ungleichheit« sowie »Wachstum«? Welche Narrative verbinden sich damit? Diesen und anderen Fragen wird in der ksœ in den nächsten zwei Jahren unter dem Schwerpunkt »Wohlstand neu definieren« nachgegangen.