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25.06.2020
An der Schwelle zum zweiten Jahrhundert
Seit 1920 ist die organisierte Caritas in ganz Österreich tätig. Leider wird es sie auch im 21. Jahrhundert brauchen.
Manchen in der Kirche gehen wir als Caritas auf die Nerven. Suppe an Bedürftige ausgeben, das ist schon ganz in Ordnung. Wenn ihm ein Bettler lästig wird, murmelt der gelernte Österreicher gern ein „Bin i die Caritas?“, wendet sich pikiert ab und ist ganz froh, dass er die Armutsfrage delegieren kann. Vielerorts wird die praktische Arbeit der Caritas wertgeschätzt. Bei der Sorge um Menschen mit Behinderung, Begleitung hochaltriger und dementer Menschen, Unterbringung Obdachloser, in der Katastrophenhilfe, bei der Essensausgabe in Coronazeiten, da sind die Meisten schon ganz froh, dass es diese Organisation mit rund 15.000 Hauptamtlichen und 50.000 Freiwilligen gibt. Aber: aus der Existenz der Caritas ergibt sich für die Wohlfühlblase Ungemach in doppelter Hinsicht, nämlich politisch und kirchlich.
Zu politisch
Sobald sich die Caritas aus dem praktisch-konkreten Tun herausentwickelt, bläst ihr ein schärferer Wind entgegen. Anwaltschaft für die Armen, geschweige denn politischer Einsatz gegen Not führen zu kleinbürgerlichem Hyperventilieren. Dabei ist die Sache klar. Die Idee einer Caritas steht auf dem Fundament einer unverhandelbaren Menschenwürde, die auf lautes und leises Leid derjenigen aufmerksam macht, die entrechtet, betrogen, ausgebeutet und getötet werden. Sie beruft sich auf einen Gott, der das Schreien der Notleidenden hört. Dass dabei das praktische, handfeste Tun zu einem anwaltschaftlichen, oft auch politischen Handeln zwingt, liegt in der Natur der Sache. Suppe ausgeben und nicht zugleich den Skandal anzuprangern, dass es in einem der reichsten Länder der Erde noch immer Hunderttausende gibt, für die warm, satt und sauber unerreichbar sind, ist für eine Caritas, die sich selbst ernst nimmt, unannehmbar.
Zu jesuanisch
Caritas ist sichtbares Bild von Kirche. Jesus hat eine Religion des Risikos gelebt. Eine unangenehme Form von Spiritualität. Eine, die Himmel und Erde verbunden hat. Wenn der Urgrund des Seins gut ist, dann hat sich dieses Gute auch in der Welt zu zeigen. Ganz konkret und ganz besonders in einer entschiedenen Option für die Armen. Eine derartige Haltung hinterfragt bürgerliche Wohlfühlnischen. Sie ist politisch und das ist unangenehm. Zudem hat sich in den Monaten des coronabedingten Ausnahmezustands eine gefährliche kirchliche Entwicklung radikalisiert: die Abschottung von der Welt.
Während hunderttausende arbeitslos wurden, sich Schlangen vor den Sozialberatungsstellen bilden, das Ertrinken Flüchtender in der Ägäis aus dem Blick geraten ist, Menschen aus Sorge um die Zukunft nicht mehr schlafen können, das einsame Sterben in Isolation zu Verzweiflung geführt hat, vielerorts Trauer und Angst förmlich zu greifen waren, fokussierte manch diözesane Aussendung auf liturgische und spirituelle Angebote zur je eigenen seelischen Erbauung. Das mag für einige von uns schon auch wichtig sein, die meisten Menschen, insbesondere notleidend Betroffene lässt es in ihrer Bedrückung alleine.
Zweifellos gibt es liturgische Elemente, die gewaltig erhebend und erschütternd in ihrer Schönheit sind, die zu seelischer Tiefenbohrung führen und Faszination verströmen. Zugleich ist es das für viele nicht. Eine Kirche, die auf Spiritualität für Spiritualitätsvirtuosen fokussiert, verliert die meisten Menschen aus dem Blick.
Jesus hat nie Messe gefeiert, sondern sie begründet. Im Rahmen einer Mahlfeier, die zum Gedächtnis an die Einsetzung der Eucharistie wurde, hat er Füße gewaschen. Das Zeichen war klar. Es ging ihm nicht um Popkonzerte mit Drall zum Halleluja, sondern ums Dienen. Wie können wir uns unterstehen, uns in Zeiten der Pandemie in den Kirchenraum zurückzuziehen?
Caritas in den nächsten hundert Jahren
Caritas, in erster Linie als Haltung, in weiterer Folge als verfasste Struktur, ist im 21. Jahrhundert auch wiederum in dreifacher Hinsicht gefordert. Zuerst geht es um das praktische Tun, die konkrete Tat von Mensch zu Mensch, dort wo das Leben brüchig wird, an den gesellschaftlichen Rändern, an den Rändern des Globus, wo Armut, Hunger, Durst, Not, Flucht, Tod, Trauer, Alter, seelische Schmerzen, Einsamkeit, Behinderung und unzählige andere Beschneidungen menschlicher Existenz ein würdevolles Leben verunmöglichen.
Dann geht es um Anwaltschaft für die Themen der Leidenden. Das wird nach wie vor oft eine politische Dimension haben. Die mag beim spießigen Räkeln auf der Couch unangenehm sein und so manche Biedermeieridylle stören. Aber Caritas kann nicht anders, will sie den offensichtlichen biblischen Auftrag nicht bis zur Unerträglichkeit weichspülen.
Und schließlich geht es um einen innerkirchlichen Auftrag. Caritas ist kein Teil von Kirche. Sie ist Wesensausdruck von Kirche. Das mag innerkirchlichen Kuschelgruppen unangenehm sein. Aber eine caritasvergessene Kirche ist keine Kirche. Daran gilt es ständig zu erinnern.
Die Kirche muss sich beschmutzen, indem sie draußen bei den Menschen ist, oder sie wird sich obsolet machen. Papst Franziskus hat das etwas schärfer formuliert. „Mir ist eine `verbeulte´ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“ (Evangelii Gaudium, 49) Und schließlich: „Jede beliebige Gemeinschaft in der Kirche, die beansprucht, in ihrer Ruhe zu verharren, ohne sich kreativ darum zu kümmern und wirksam daran mitzuarbeiten, dass die Armen in Würde leben können und niemand ausgeschlossen wird, läuft die Gefahr der Auflösung, auch wenn sie über soziale Themen spricht und die Regierungen kritisiert. Sie wird schließlich leicht in einer mit religiösen Übungen, unfruchtbaren Versammlungen und leeren Reden heuchlerisch verborgenen spirituellen Weltlichkeit untergehen.“ (EG 207)
So wird Caritas als strukturierter Ausdruck der Sorge um die und den Nächsten in Not auch in ihrem zweiten Jahrhundert notwendig sein. Schön wär’s, wenn man sie nicht mehr bräuchte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Über den Autor
Rainald Tippow, Theologe, Erwachsenenbildner, ehem. Flüchtlingskoordinator der ED Wien, Leiter PfarrCaritas und Nächstenhilfe