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09.07.2020
Frei für die Wege des Geistes
Entscheiden und Leiten in der Ordensgemeinschaft
Wie können in einer Gruppe gute Entscheidungen getroffen werden? Wie verhalten sich Autorität und Partizipation, wie gestaltet sich das Zusammenspiel von Freiheit und Macht? Die Ordensregel der Schulschwestern ermutigt, Leitungsstrukturen zu schaffen, die „befreien für die Wege des Geistes“. Das mag überraschen und kann anregen, über Entscheidungsfindungsprozesse nachzudenken.
Zum Schluss waren es nur zwei Sätze, aber wir haben dafür ein ganzes Wochenende gebraucht. Das Ringen um eine gute gegenseitige Ergänzung von ausgeübter Autorität und gelebter Partizipation gehört nun schon seit rund 50 Jahren zu meinem Ordensleben und meiner persönlichen Leitungsaufgabe.
Wir sind eine augustinische Ordensgemeinschaft und mühen uns, bei wichtigen Fragen zu Konsensentscheidungen zu kommen. In der Lebensregel heißt es: Konsensentscheidungen „sind Entscheidungen, die alle Mitglieder annehmen, unterstützen und ausführen können, auch wenn einzelne eine andere bevorzugen würden.“1 Es ist für uns ein ständiger Lernprozess, in geistlicher Unterscheidung herauszufinden, welche Angelegenheiten so wichtig sind, dass wir uns die Zeit für Konsensentscheidungen nehmen. Sie brauchen Zeit, Geduld und ein hohes Maß an Reflexion und Wahrhaftigkeit. Jede Schwester betet, reflektiert, ist ermutigt, ihre eigene Einsicht offenzulegen und bereit, die Sicht der anderen wahr-zunehmen (sic). Auf diese Weise wird nicht der Kompromiss, sondern eine tiefere Übereinstimmung gesucht.
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren die Ordensgemeinschaften aufgerufen, ihre Regeln und Satzungen zu überprüfen und eine Erneuerung im Geist des Konzils zu ermöglichen. In einem jahrelangen Prozess wurde unter Einbeziehung der damals mehr als 8000 Schwestern eine neue Lebensregel erarbeitet. Ich persönlich war Mitglied des kleinen Schreib-Komitees. Wir haben – wie eingangs erwähnt – ein ganzes Wochenende gebraucht, um die zwei Sätze zu formulieren, die heute den Einleitungsparagraphen zum Kapitel über die Leitung der Kongregation bilden. „Um Gott als geistliche Gemeinschaft folgen und um wirksam dienen zu können, gestalten wir unsere Leitungsstrukturen so, dass sie uns befreien für die Wege des Geistes. Die Form unserer Leitung erwächst aus unserem gemeinsamen Leben und unserer Sendung und befruchtet sie.“2 Nach jahrelangem Suchen und dem Einbeziehen aller Schwestern der Gemeinschaft wurde 1982 die neue Lebensregel einstimmig angenommen! Damit wird der geistliche Rahmen abgesteckt für die Struktur unseres gemeinsamen Lebens und für das Zusammenspiel von Autorität und Gehorsam.
Andere Fragen in der lokalen Gemeinschaft regeln wir auch demokratisch oder überlassen die Entscheidung der Verantwortlichen beziehungsweise der einzelnen Schwester. Es sagt niemand, die Erfüllung unseres Gelübdes des Gehorsams sei jetzt leichter, aber die Entscheidungen sind tragfähiger geworden. Als eine Leiterin in meiner eigenen Gemeinschaft erfahre ich die Herausforderungen in einer neuen Komplexität. Jetzt, im Mai 2020, zählt unserer Kongregation weltweit rund 2000 Schwestern und die Verantwortlichen in Europa suchen wieder einmal nach neuen Leitungsstrukturen, „die uns befreien für die Wege des Geistes“.3 Wenn diejenigen, die die Entscheidungen treffen müssen, mit sieben verschiedenen Erstsprachen zusammenkommen, dann gewinnt z.B. das Mühen um eine „Provinz Europa“ eine zusätzliche Brisanz. Die Bedeutung der Interkulturalität in der Entscheidungsfindung erhält in meiner Gemeinschaft eine wachsende Beachtung. Wie zeitaufwendig oder zeitsparend US-Amerikanerinnen und deutsche Mitschwestern zu einem Ergebnis kommen möchten, ist immer wieder eine spannende, manchmal auch eine ermüdende Erfahrung.
Persönlich habe ich das in der Gemeinschaft Geübte auch in anderen Wirkungsbereichen einbringen können. In einer Schule gibt es z.B. einen schon von außen klar abgesteckten Rahmen. Gesetzliche Vorgaben, Erlässe und Verordnungen lassen selten einen größeren Handlungsspielraum, der pädagogische Alltag erfordert aber sehr oft rasche Entscheidungen. Abstimmungen in der Konferenz, auch und gerade in einer Notenkonferenz, verlangen nach Mehrheiten, die demokratisch gefunden werden sollen. Nicht selten hat mich dann die Feststellung: „Die Mehrheit entscheidet“ mit der Frage zurückgelassen: „Und wie geht es der überstimmten Minderheit?“ Das Ergebnis einer Abstimmung ist nicht in jedem Fall ein wirklich demokratisches Ergebnis, es kann unter dem Deckmantel der Demokratie auch die Durchsetzung von eigenen oder Gruppeninteressen sein ohne Rücksicht zu nehmen auf die Bedürfnisse der anderen. Gute demokratische Entscheidungen brauchen im Vorfeld den Dialog und die Bereitschaft, Gegenargumente zu hören und die eigene Meinung nochmals zu ändern. Unsere Lebensregel fordert uns sehr heraus mit dem Impuls: „Wir setzen den guten Willen jeder einzelnen voraus.“4
Als Schulschwestern haben wir von unserer Gründerin den Auftrag bekommen, uns um die Benachteiligten zu kümmern. Auch die Art und Weise, wie wir Autorität ausüben, zu Entscheidungen kommen und unsere Leitungsstrukturen gestalten, kann ein Beitrag sein zur Achtung der Menschenwürde und zur Gerechtigkeit unserer Erde gegenüber. Im wachsenden Bewusstsein, dass wir alle aufeinander bezogen sind und der Lebensstil, für den wir uns entscheiden, letztlich globale Auswirkungen hat, ist es wichtig, die Erde selbst als „Dialogpartnerin“ wahrzunehmen. So darf ich noch einmal unsere Lebensregel zitieren, in der schon in den Achtzigerjahren formuliert wurde: „Als Mitglieder einer internationalen Kongregation sehen wir uns verpflichtet und in der Lage, eine weltweite Sicht und ein umfassendes Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln.“5
Unsere Mitschwestern aus Ghana haben uns auf ein schönes Symbol aufmerksam gemacht. Wenn GhanaerInnen von Autorität reden, dann denken sie an eine Hand, die ein rohes Ei hält: so fest, dass es nicht fällt, so zart, dass es nicht zerbricht. Und wenn das Ei ein Symbol für die ganze Erde wäre?
1 IHR SEID GESANDT; (ISG) Konstitution und Generaldirektorium der Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau; Rom – München 1986 Nr 62, S. 42. Alle Zitate stammen aus der deutschen Fassung der gemeinsamen Lebensregel.
2,3 Ebda Nr 40, S. 33
4 Ebda Generaldirektorium, Abschnitt „Gemeinschaft“ Nr 2c, S. 71
5 Ebda Konstitution Nr 26, S. 29
Über die Autorin
Sr. Dr. Beatrix Mayrhofer, Jahrgang 1948, ist Mitglied in der Kongregation der Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau (SSND). Studium der Pädagogik, Psychologie und Philosophie (Dr phil) und der Theologie (Mag theol) in Wien und Regensburg. Viele Jahre Lehr- und Leitungstätigkeit an einer AHS; Leiterin der Provinz Österreich-Italien/Tschechien; 2013-2019 Präsidentin der Vereinigung der Frauenorden Österreichs.
Dieser Artikel ist im ksoe Dossier 1/2020 erschienen (Seite 12-13), dort können Sie auch weitere Artikel zum Thema Führung und Verantwortung in Organisationen nachlesen.