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6.5.2021
Solidarität. Zur Klärung eines unscharfen Begriffs
Die Corona-Pandemie hat viele soziale Phänomene verschärft sichtbar gemacht – auch das Maß und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Solidarität. Unmittelbarer als andere Zusammenhänge vermittelt die Pandemie die Erfahrung, dass wir alle in einem weltweiten Haftungsverbund leben. Die Pandemie ist kein nationales oder milieu-spezifisches Phänomen – sonst wäre es ja keine „Pan-demie“ (von griech. πᾶν/pan ~ all, ganz & δῆμος/demos ~ Volk ⇒ „das ganze Volk (= alle) betreffend“). Sie kann nur bewältigt werden, wenn alle ihren Beitrag dafür leisten, etwa in der Befolgung entsprechender Hygiene-Maßnahmen und behördlich verordneter Verhaltensregeln oder in der Bereitschaft, sich regelmäßig testen und schließlich auch impfen zu lassen, sobald die Möglichkeit dazu besteht.
So hat die britische Queen mit Blick auf ihre eigene Covid19-Impfung und auf die weitverbreitete Impf-Skepsis ihr Staatsvolk ganz lapidar ermahnt, anstelle von Angst weniger an sich selbst zu denken, sondern mehr an die Anderen. Und UNO-Generalsekretär A. Guterres hat in Zusammenhang mit der weltweit extrem ungleichen Verfügbarkeit von Impfstoffen das Bild einer Feuersbrunst in einem Dorf bemüht: Es nützt nichts, wenn jemand dabei ausschließlich auf das eigene Haus schaut; dem in der Nachbarschaft ungebremsten Wüten des Feuers würde früher oder später auch dieses Haus anheimfallen.
Der Ruf nach Solidarität hat also Konjunktur – auch abseits der Corona-Pandemie: Sozialwissenschaftliche Studien diagnostizieren seit Jahren eine wachsende gesellschaftliche Entsolidarisierung bzw. erhöhten Solidaritätsbedarf. Moderne Gesellschaften sind hochgradig individualisiert, pluralistisch und ausdifferenziert; klassische soziale Schichtungen, weltanschauliche Milieus und sonstige Zusammenhalt stiftende Faktoren lösen sich zusehends auf und finden kaum Ersatz durch neue stabile Strukturen. Zugleich stehen wir mitten in Entwicklungen, welche die traditionellen Solidarstrukturen unserer Gesellschaft vor große Herausforderungen stellen: z.B. strukturelle Ungleichverteilung von Arbeit und Einkommen, demografische Alterung der reichen Gesellschaften und wachsender internationaler Wettbewerbsdruck als Folge der Globalisierung. Überall wird deshalb der Ruf nach Solidarität wieder lauter – auch seitens der christlichen Kirchen. Mit dem namhaften Soziologen Franz-X. Kaufmann muss man allerdings sagen: Solidarität ist zwar ein „Lieblingsbegriff der Katholischen Soziallehre“, doch kann man nicht behaupten, „dass sie ihn in analytischer Sicht besonders vertieft hätte“.
Zunächst muss schon gefragt werden: Kann nach Solidarität überhaupt sinnvoller Weise „gerufen“ werden? Oder was ist es genau, wonach da gerufen wird? In der Katholischen Soziallehre ist Solidarität zunächst ein Seinsprinzip; es verweist schlichtweg auf eine soziale Tatsache, die alleine schon darin gründet, dass alle Menschen auf demselben begrenzten Planeten Erde leben. Deshalb sind alle auf vielfältige Weise voneinander abhängig – und füreinander verantwortlich. Danach muss man aber nicht rufen; das kann man auch nicht fordern; es ist einfach so. Man kann also höchstens bzw. muss nötigenfalls daran erinnern.
Alle sind sich überdies darin einig, dass Solidarität etwas Gutes ist. Aber meinen auch alle dasselbe? Tatsächlich eignet dem Gebrauch des Wortes „Solidarität“ eine notorische Unschärfe. Ist etwa von Teil-Solidarität innerhalb einer Interessengruppe (womöglich gegen eine andere) die Rede – oder von einer kraft der sozialen Verfasstheit menschlicher Personalität universalen Solidarität? Finden die legitimen Lebensinteressen kommender Generationen ausreichend Berücksichtigung oder werden sie der (teil-)solidarischen Durchsetzung aktueller Lebensinteressen geopfert? Ist Solidarität mit oder für andere(n) gemeint? Solidarität als innere Haltung oder als tätiges Verhalten? – Solange Begriffe unscharf bleiben, taugen sie nicht viel, selbst wenn noch so viel Gutes damit gemeint ist.
Folgende Wesensmerkmale des Solidaritätsbegriffs begegnen jedenfalls häufig:
- Verbundenheit mit den anderen Mitgliedern einer Gesellschaft, Gemeinschaft oder Gruppe – trotz gegebener Differenzen
- Identifikation des Einzelnen mit dem Anliegen, Wohl oder Geschick seiner Gemeinschaft
- Mitverantwortung für das Wohl der anderen Gruppen- bzw. Gesellschaftsmitglieder
- Reziprozität im Sinne wechselseitiger Verpflichtung oder Bereitschaft (des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen), füreinander einzustehen bzw. fürsorgliche Verantwortung zu übernehmen
- soziale Kooperation zur Realisierung gemeinsamer Ziele bzw. Interessen
- karitative Hilfestellung zugunsten Bedürftiger
- Altruismus bzw. freiwilliges Engagement zugunsten angestrebter Ideale
Besonders wichtig erscheint in aktuellen Debatten die Unterscheidung von Solidarität als individuelle, moralische Gesinnung bzw. Haltung einerseits und als Verhalten andererseits, das durch gesellschaftliche Rahmenordnungen und Einrichtungen institutionell verankert und sogar gesetzlich „erzwungen“ werden kann: Solidarität als moralische Gesinnung kann und darf nie Gegenstand politischer oder juridischer Zwangsmaßnahmen sein; das widerspräche nachgerade dem Wesen der Solidarität als sittlicher Tugend. Im Unterschied dazu kann ein bestimmtes solidarisches Verhalten – als Bedingung für das Funktionieren sozialen Zusammenlebens – sehr wohl institutionell eingefordert werden, sofern es im Rahmen der Gerechtigkeit allen zugemutet werden kann. M.a.W.: Die innere Haltung der Solidarität ist legistisch nicht einklagbar, sehr wohl aber Verhaltens- und Handlungsweisen, die als erforderlich zur (Wieder-)Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Frieden erkannt werden. Das geschieht konkret dort, wo eine Gesellschaft zu ihrem guten Funktionieren Institutionen eingerichtet hat, zu denen alle – nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten – einen solidarischen Pflichtbeitrag zu leisten haben, etwa im Bereich des (Sozial-)Versicherungs- oder Steuerwesens. Auch die Einhaltung behördlich verordneter Pandemie-Maßnahmen kann auf diese Weise erzwungen werden – nicht aber eine positive Haltung dazu, auch nicht zu Corona-Tests oder -Impfungen, bei denen zusätzlich persönliche Grund- und Freiheitsrechte ins Spiel kommen. Persönliche Haltungen und Überzeugungen sind immer Gegenstand der individuellen Freiheit; sie können bestenfalls motiviert und nur dadurch verändert werden.
Einerseits wäre es also naiv, Solidarität einfach in den Bereich freiwilliger, meist weltanschaulich begründeter Sozial-Gesinnung abzuschieben. Solidarität ist eine existentielle Tatsache und ein dementsprechendes Verhalten eine unverzichtbare Grundbedingung gelingenden gesellschaftlichen Zusammenlebens in Frieden und Gerechtigkeit. Eine (freiwillige und wünschenswerte) Partizipation von Bürger*innen an der gesellschaftlich zu organisierenden und zu praktizierenden Solidarität ersetzt deshalb nie staatlich organisiertes und ggf. sogar erzwungenes Solidarverhalten.
Wenn sich gesellschaftliche Solidareinrichtungen und -verhaltensweisen im Laufe der Zeit aber als unzureichend zur Herstellung eines Mindestmaßes an sozialem Ausgleich und Zusammenhalt erweisen, eine entsprechende Anpassung sich aber als politisch nicht (mehr) durchsetzbar erweist, haben wir es in letzter Konsequenz immer mit einem Mangel an solidarischer Gesinnung in einer Gesellschaft zu tun. Der lebensnotwendige solidarische Grundwasserspiegel einer Gesellschaft ist dann bedrohlich abgesunken. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung moral-stiftender bzw. -begründender Institutionen in unserer Gesellschaft: Die in Form von politischen und juridischen Bestimmungen institutionalisierte Solidarität unserer Gesellschaft benötigt für ihr dauerhaftes Funktionieren letztlich immer wieder von neuem die „Energiezufuhr“ sittlich motivierter solidarischer Gesinnung, also solidarischer „Herzensbildung“ auf Seiten der Bürger*innen.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift „Begegnungen“ der Katholischen LehrerInnen- und ErzieherInnengemeinschaft (KLE)
Veranstaltungshinweis:
Die soziale Frage heute
Navigieren in stürmischen Zeiten – welche Orientierung bietet die Katholische Soziallehre?
Zeit: Mittwoch, 12. Mai 2021, 14:00-18:00 Uhr, Online – Teilnahme via Zoom*
Veranstaltung zum Aktionsjahr 130 Jahre Katholische Soziallehre
Markus Schlagnitweit:
„Die jüngsten Dokumente der Kath. Soziallehre buchstabieren die soziale Frage heute so: Es gibt eine existentielle ökologische Krise, die zugleich vor massive soziale Gerechtigkeitsfragen stellt. Die sozialen Beziehungen in Wirtschaft und Arbeitswelt sind durch eine auf alle Lebensbereiche ausgreifende Ökonomisierung bedroht und herausgefordert. Die genannten Probleme betreffen die gesamte Menschheitsfamilie, weshalb ihre Lösung eine Globalisierung der Solidarität erfordert.“
*Anmeldung: kab.office@kaoe.at, www.soziallehre.at
Über den Autor
Dr. Markus Schlagnitweit, Theologe und Sozialwissenschaftler, ist Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe) sowie Akademiker*innen-Seelsorger in Linz.