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19.3.2021
Das christliche Kreuz – eine (politisch) gefährliche Erinnerung
Jesus starb am Kreuz. Es ist zum weltweit verbreiteten Symbol und Erkennungszeichen für das Christentum geworden – gleich welcher konfessionellen Prägung. Das Problem mit dem Kreuz ist, dass es – außer vielleicht in Klassenzimmern und sonstigen öffentlichen Räumen – kein Problem mehr ist. Stattdessen ein beliebtes Schmuck-Accessoire und Tattoo-Motiv, eine Landmarke zur Kennzeichnung von Berggipfeln, ein gefälliger Wandschmuck im trauten Heim oder ein mitunter sogar kunsthistorisch wertvolles Schauobjekt. Selbst im liturgischen Kontext vieler christlicher Kirchen findet es sich degradiert zum dekorativen Ornament: in zigfacher Ausfertigung auf Priester-Stolen und Messgewändern, als Borten-Stickerei auf Altartüchern und anderer liturgischer Wäsche. Die schiere Allgegenwart dieses Bildnisses bringt es mit sich, dass die eigentliche Realität und ursprüngliche Bedeutung des Dargestellten zur Nebensache verdampft. Bloßer Gewöhnungseffekt? Oder gar Verdrängungsstrategie?
Die letztgenannte Vermutung ist so unbegründet nicht, denn der Sache nach stellt das christliche Kreuz alles andere denn eine Harmlosigkeit und seine Verehrung als religiöses Symbol eigentlich eine Verrücktheit und Zumutung dar. Was da millionenfach an Wände und um Hälse gehängt, auf Stoffe gestickt und kunsthandwerklich geschönt wird, ist und bleibt zunächst: ein Schand- und Marterpfahl – ein Galgen! Das haben frühere christliche Generationen offenbar deutlicher empfunden.
Das Kreuz mit dem Kreuz
Beinahe das gesamte erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung über war nicht das Kreuz das gemeinsame Erkennungsmal der Christenheit, sondern etwa der Fisch, zuweilen auch der Weinstock oder der gute Hirte. Jahrhunderte lang scheute man sich, das Kreuz überhaupt abzubilden, und die erste kunsthistorisch bekannte Darstellung des christlichen Kreuzes stammt dementsprechend nicht aus christlicher Hand – im Gegenteil: Es ist eine Karikatur aus der Zeit der Christenverfolgung zur Verspottung des christlichen Glaubens. Sie zeigt ein geritzt – einen gekreuzigten Menschenkörper mit dem Kopf eines Esels! Davor stehen ein Mann und die Worte: „Alexamenos betet seinen Gott an.“ Der Christus-Glaube, verunglimpft als glatte Eselei!
Die ersten christlichen Kreuzesdarstellungen datieren erst aus dem 6. Jahrhundert; aber auch sie zeigen vorerst nur die beiden überkreuzten Balken – noch ohne „Crucifixus“, also ohne den Körper des Gekreuzigten. Oft sind diese frühen christlichen Kreuze auch reich verziert mit Edelsteinen und wertvollen Kunstschmiede-, Schnitz- oder Steinmetzarbeiten, sind also eher österliche Siegeszeichen ohne Erinnerung an das damit in Zusammenhang stehende Leid. Die ersten christlichen Darstellungen des gekreuzigten Christus‘ finden sich lediglich auf den Rückseiten der damaligen Prunk-Kreuze und blieben das ganze Jahr über verdeckt. Nur am Karfreitag wurden diese Kreuze umgedreht und zeigten so den darauf Gekreuzigten – aber nicht zur Verehrung, sondern eher zur Emotionalisierung, vielleicht auch zur Provokation. Hoffentlich aber auch zu dem Zweck, dem zu dienen das christliche Kreuz bis heute nicht aufhören darf: zur – politisch! – gefährlichen Erinnerung.
Das Kreuz als politisches Fanal[1]
Denn genau das gehört unauslöschlich zur Gründungsgeschichte des Christentums, und das Kreuz ist gleichsam sein Brandmal: Die Kreuzigung war im römischen Justizsystem zur Zeit Jesu die für politische Aufrührer vorgesehene Hinrichtungsart. Ans Kreuz geschlagen wurden Personen, die als politisch gefährlich eingestuft und genau deshalb zum Tod verurteilt worden waren. Dafür spricht auch ein wiederkehrendes Motiv in den biblischen Überlieferungen der Leidensgeschichte Jesu: Jesus, der König. Schon am Beginn seines Leidensweges spielt dieses Thema eine zentrale Rolle: Der Einzug Jesu in Jerusalem wird geschildert wie ein königlicher Huldigungszug. Einige Tage später, bei der Einvernahme des verhafteten Jesus durch den römischen Statthalter Pilatus, fragt ihn dieser: „Bist Du ein König?“ Und ganz am Ende der Passion Jesu taucht das Thema erneut auf: Pilatus ließ am Kreuz über Jesu Kopf eine Tafel anbringen mit der Aufschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Ob das nun als Verhöhnung Jesu bzw. der jüdischen Bevölkerung gedacht war oder einfach als Begründung des am Kreuz vollstreckten Todesurteils – es bestätigt nur einmal mehr: Die Titulierung als „König“ macht Jesus eindeutig zu einer politisch relevanten Persönlichkeit – sowohl für seine Anhängerschaft, die vielfach sehr handfeste Erwartungen in sein messianisches Königtum setzte, als auch für seine Widersacher in den Reihen des religiösen, sozialen und politischen Establishments jener Zeit. Sie sahen sich bzw. ihre Machtpositionen durch Jesu Auftreten und seine Botschaft gefährdet und infrage gestellt. Vermutlich wurden auch viele seiner ursprünglichen Anhänger nur wenig später zu erbitterten Gegnern, da er die hochgesteckten Erwartungen in seine unmittelbare politische Wirkung enttäuschte. Sie forderten dann ebenfalls seinen Tod.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die damalige Supermacht Rom den Sandalen-bewehrten Wanderprediger aus Galiläa tatsächlich als ernste Gefahr fürchtete; aber sie verurteilte Jesus schließlich dennoch als politischen Verbrecher. Das zeigt: Jesu ganzes Wirken und Predigen wurde offenbar keineswegs als politisch harmlos bewertet, sondern als hochbrisante Botschaft, als Kritik an den herrschenden sozialen, religiösen und politischen Verhältnissen und zumindest dazu angetan, Unruhe zu stiften in der Bevölkerung bzw. den gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und im eingespielten Machtgefüge der herrschenden Eliten. Selbst in Diktaturen ohne rechtsstaatliche Standards würde man sonst ja kaum riskieren, ans Kreuz geschlagen zu werden, nur weil man erbaulich predigt, Kranke heilt und liebevoll mit seiner Mitwelt umgeht.
Das Kreuz als Verpflichtung
Wenn sich in der Christenheit nun aber das Symbol des Kreuzes so unumstritten durchgesetzt hat (nach außen als eindeutiges Erkennungsmal, nach innen als ständige Erinnerung), dann darf die besondere politische Bedeutung dieses ursprünglichen Hinrichtungswerkzeugs nicht einfach ausgeblendet werden. Dann müssen doch auch das überlieferte Reden und Handeln des gekreuzigten Jesus von seinen Anhängern und Anhängerinnen unter diesem Vorzeichen gelesen und gedeutet werden. Ja, ist dann seine Jüngerschaft bzw. Nachfolge um ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht selbst verpflichtet, politisch zu sein und zu wirken: also unbequem und kritisch gegen bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse und parteiisch für jene, denen diese Strukturen eine freie, ungehinderte Lebensentfaltung erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen?
Die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Umstände sind zwar heute ganz anders als zur Zeit Jesu. Manches aus den biblischen Überlieferungen zur Person Jesu ist nicht einfach eins zu eins auf das Leben heute übertrag- bzw. anwendbar. Deshalb kann es auch keine simplen und einfach funktionierenden Antworten im Hinblick auf heutige soziale Fragen und Problemstellungen geben. Aber bedeutet konsequente christliche Jüngerschaft dann nicht trotzdem und sogar gerade deshalb, selbst unbedingt und grundsätzlich politisch zu agieren im Geist der Evangelien und in unmittelbarer Nachfolge dessen, der als politischer Aufrührer sein Leben verlor (und nach der Überzeugung seiner Anhängerschaft vielmehr gewann)? Ja, wäre umgekehrt ein entpolitisiertes Christentum, also politische Enthaltsamkeit und Neutralität, nicht geradezu ein Verrat an seiner Gründergestalt?
Freilich, die Geschichte des Christentums weiß auch von ungeheuren politischen Verirrungen in seinem Namen. Sie berichtet uns auch von politischem Religionsmissbrauch, also politischer Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Religion zu machtpolitischen Zwecken. Dennoch ist und bleibt gerade diese Religion es ihrem Gründer schuldig, seine Botschaft und seinen Sendungsauftrag immer wieder neu auf seine aktuelle politische Relevanz hin „abzuklopfen“ und in diesem Geist neu zu formulieren – ganz im Sinne dessen, was der von den Nazis ermordete protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer für seine Zeit so markant formulierte und forderte: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen!“
Ermutigung
Das Buch versucht – ohne Anspruch auf Systematik und Vollständigkeit – einen Dialog über die politische Relevanz der Botschaft Jesu für heutiges Christsein, exemplarisch festgemacht an ausgewählten Bibelstellen. Es möchte mehr als zum bloßen Nach-lesen anregen und ermutigen, das je eigene Christsein zu „politisieren“.
In allen Kapiteln kommen zwei Stimmen in Form von kurzen Essays zu Wort und treten miteinander in Dialog: die Stimme einer Bibelwissenschaftlerin, Jahrgang 1990, die erst durch das Studium zur Kirche gefunden hat und mittlerweile mit Kindern und Jugendlichen am Thema Religion arbeitet. Und die Stimme eines Priesters, Jahrgang 1962, der aufgrund biografischer Prägung von Jugend an Christsein immer als Auftrag zur Weltgestaltung verstanden hat. Der deshalb neben der Theologie auch Sozialwissenschaften studiert und neben der Seelsorge sein zweites berufliches Standbein in der Erforschung und Vermittlung der Katholischen Soziallehre gefunden hat. Diese beiden Stimmen bilden zwar keineswegs den gesamten Chor der Meinungen ab, bieten aber hoffentlich Harmonien und Kontraste, an denen sich das eigene Handeln orientieren und entflammen kann.
Das Cover-Bild des Buches zeigt ein Flüchtlingsboot – eine Steilvorlage. Denn die Tausenden von Lebensgeschichten, die in diesem Bild anklingen, sind mehr als eine „Nagelprobe“ für den christlichen Glauben. An ihnen wird das globale Ausmaß der Fragen deutlich, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Wir sind Teil komplexer Zusammenhänge und Wechselwirkungen, die Leid verursachen, für das wir uns kaum jemals persönlich verantworten müssen oder können. Für Christinnen und Christen hängt jedoch das Gelingen des eigenen Lebens maßgeblich daran, wie sie sich den Notleidenden dieser Welt gegenüber verhalten (vgl. Mt 25,31–46). Angesichts der Komplexität und der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen wir uns daher die Frage: Was würde Jesus tun? Wohin weist die Botschaft des Mannes aus Galiläa, der als politischer Aufwiegler starb, obwohl mit ihm doch eigentlich das Reich Gottes anbrach?
1] „Fanal“ bedeutet heute „ein Aufmerksamkeit erregendes und Veränderung ankündigendes Zeichen, oft in Form eines bedeutungsschweren, folgenreichen oder symbolträchtigen Ereignisses oder einer solchen Handlung“. (https://de.wikipedia.org/wiki/Fanal, 19.03.2021)]
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Was würde Jesus tun. Anregungen für politisches Handeln heute“ von Daniela Feichtinger und Markus Schlagnitweit.
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Über die AutorInnen
Dr. Daniela Feichtinger, geb. 1990; promovierte alttestamentliche Exegetin (Award of Excellence) und Religionspädagogin. Unterrichtet aktuell in Graz. Autorin zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Texte, u.a. für feinschwarz. www.daniela-feichtinger.at
Dr. Markus Schlagnitweit, geb. 1962; kath. Priester sowie Sozial- und Wirtschaftsethiker. Arbeitet aktuell als Direktor der ksoe in Wien sowie als Akademiker- und Künstlerseelsorger sowie Rektor der Ursulinenkirche in Linz. Zahlreiche weitere Publikationen zu Theologie, Spiritualität, Ethik und Gesellschaftspolitik. www.schlagnitweit.at