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21.1.2021
Darwinismus auf dem Weg zur Staatsideologie - Teil 1
Die Barrington Declaration, 4. Oktober 2020
Die Autoren und Erstunterzeichner der Great Barrington Declaration[1], vorwiegend aus dem angelsächsischen Raum, sind sämtlich ausgewiesene Fachleute in ihren medizinischen Arbeitsfeldern. Sie fordern einen Strategiewechsel im Umgang unserer Gesellschaften mit der gegenwärtigen Pandemie. Den Vorschlag begründen sie mit medizinischer Fachkompetenz – aber damit verwechseln sie die Register des Denkens, ein grober intellektueller Fehler. Ihre Forderung ist ein politisches Konzept, kein medizinisches Gutachten.
Als Medizinexperten sind sie dafür nicht zuständig, wobei selbstverständlich auch sie zur politischen Meinungsäußerung legitimiert sind, wie jede andere Person auch. Hier wird medizinischer Sachverstand willkürlich vermischt mit einer politischen Meinung, doch beide hängen nur in den Personen der Unterzeichner zusammen, sie müssen sachlich getrennt beurteilt werden. Medizinisch ist ihr Vorbringen nicht neu, aber mit wünschenswerter Deutlichkeit präsentiert. Erstens, die Sterbegefahr bei Alten sei tausendfach höher als bei Jungen. Zweitens, die Pandemie endet durch Herdenimmunität, erreicht durch massenhafte natürliche Infektion, womöglich durch Impfung ergänzt.
Herdenimmunität als Strategie
Doch wie soll der gesellschaftliche Prozess zwecks Herdenimmunität gesteuert werden? Hier verlassen die Autoren der Declaration das Feld ihrer medizinischen Kompetenzen, sie formulieren eine politische Strategie, auch dies mit wünschenswerter Deutlichkeit. Diese Strategie hat zwei Aktionsfelder. Alle Personen mit geringem Sterberisiko sollen normal weiterleben – so wird durch natürliche Infektion Immunität erlangt. Zugleich sollen „alle mit hohem Risiko, alle Verletzlichen“ besonders geschützt werden.
Die medizinische Komponente der Declaration wird von den einschlägigen Fachleuten zu erörtern sein.[2] Welche zusätzlichen Krankheitsfolgen der Pandemie treffen auf dem vorgeschlagenen Weg zur Herdenimmunität die „Normalen“, die als nicht länger des gemeinsamen Schutzes Bedürftige einfach so wie früher weiterleben sollen? Wie viele zusätzliche Erkrankungen und Todesfälle auch bei „Normalen“, aber in ungleich größerem Ausmaß in den „Risikogruppen“? Die Declaration klammert den medizinisch wichtigsten Effekt erstaunlicherweise aus: Wenn die große Mehrheit, also die nicht mehr gesondert Schutzbedürftigen, „normal“ weiterleben soll, ohne allgemeine Schutzvorkehrungen, steigt unweigerlich das Infektionsrisiko gerade für die Schutzbedürftigen. Mehr angesteckte Jüngere stecken mehr Ältere an. Und für die Gesellschaft insgesamt: Wie viel mehr Infektionen? Wie viel mehr Todesfälle? Garantiert die natürliche Infektion für Immunität? Wie lange bis zur Herdenimmunität?
Nicht die medizinische Komponente allein, mehr noch der politische Kern der Declaration fordert eine politische Auseinandersetzung heraus. Was heißt „besonders schützen“? Wer gehört zu den „Verletzlichen mit hohem Risiko“, und vor allem: wer definiert den Risikokreis, in welchen Verfahren, durch welche Institutionen? Das sind keine banalen Fragen, sie sollten nicht durch Aufzählung von Behörden und Verwaltungstechniken erledigt werden. Bis zur angestrebten Herdenimmunität kann es lange, vielleicht sehr lange dauern. Also müsste der „Konzentrierte Schutz“ – eine Sonderbehandlung für viele – als dauerhafte Komponente der gesellschaftlichen Organisation gestaltet werden. Wie organisieren, wie finanzieren, zu wessen Lasten?
Die Botschaft des Darwinismus
Die Autoren der Barrington Declaration versuchen, einem politischen Konzept und ihrer eigentümlichen Weltanschauung den Nimbus einer medizinwissenschaftlich gesicherten Wahrheit überzustülpen.[3] Die entscheidende Frage wird ausgeblendet: Wie verändert sich der Charakter der Gesellschaften, sobald nicht mehr ein Geflecht von allgemein gültigen Regeln und Grundsätzen – gültig für alle Glieder der Gesellschaft – den Zusammenhalt herstellt? Doch mit ihrem Aufruf geben die Autoren ihre Antwort, sie ist unmissverständlich: Die Starken sollen die Pandemie überleben, nur sie. Wer von den Jungen „normal“, also ohne gemeinschaftlich organisierten Schutz weiterlebt, dabei doch krank wird, vielleicht stirbt, hat eben Pech gehabt. Ihr Opfer beweist nur, sie gehören eben nicht zu den Starken. Das ist die eine Hälfte der Botschaft. Ohne die Sache beim Namen zu nennen, die Barrington Declaration ist die Botschaft des Darwinismus.
Die zweite Hälfte der Botschaft beinhaltet das noch größere Schadenspotential. Eine erst noch zu definierende große Minderheit soll unter wohlmeinenden Namen „Verletzliche, Alte, Schutzbedürftige“ ausgesondert und speziell behandelt werden. Dieser spezielle Schutz ist im Zusammenhang mit dem ersten Teil der Botschaft zu verstehen: die Schwachen sollen im Interesse der Starken kontrolliert, behördlich definiert und konzentriert werden. Denn ohne Aussonderung, nötigenfalls Ausstoßung der Schwachen keine Herrschaft der Starken – das ist die Botschaft des Darwinismus. Die große Minderheit der besonders Schutzbedürftigen soll sonderbehandelt werden, und dies als vermeintliche Wohltat. Dieses Motiv würde in der Breite der Gesellschaften ironischerweise viel Zustimmung gewinnen können, indem es über den tatsächlichen Charakter der Aussonderung hinwegtäuscht und für ein gutes Gewissen sorgt – Voraussetzung für funktionierende Gesellschaft. Das wäre ein entscheidender Schritt zum Darwinismus als Basisideologie der Gesellschaften.
Faschismus in neuer Gestalt?
Es wäre der große Zivilisationsbruch. Nicht länger ist ein institutionell gesichertes gemeinsames Achten auf Schwächere und besonders Gefährdete die Grundlage der Gesellschaft. Der mentale und institutionelle Zustand vieler Gesellschaften, speziell auch der europäischen begünstigt ein Abschmieren zu Fassadendemokratien, zu autoritärer Führung auf dem Weg zu Faschismus in neuer Gestalt. Der Schritt von Sonderbehandlung und Konzentration der „besonders Schutzbedürftigen“ zu Schutzhaft und KZ – zur Absonderung von Anormalen und dann auch von beliebigen Feinden der Regierenden – ist kurz.
Wird einer Mehrheit alle individuellen Freiheiten als „normal“ zugestanden, jedoch vielen Personen, zusammengefasst als die Minderheit der „Schutzbedürftigen“, ihr persönlicher Freiheitsraum staatlich beschränkt, wäre das noch ein gemeinsam-Leben freier Menschen?
Teil 2 zur „Darwinisten-Pandemie“ folgt in Kürze.
[1] „https://gbdeclaration.org/„.
[2] Siehe dazu: Urs P. Gasche, Wissenschaftler rufen zu «Containment» mit Tracing und Quarantänen auf. Sie sind gegen kontrollierte Immunisierung der Jüngeren. In: Infosperber 18. Oktober 2020.
[3] Siehe dazu Alfred Schlienger, The Great Barrington Declaration sorgt für medialen Wirbel. Dabei ist sie ein Ladenhüter. 13 Gründe für ein gesundes Misstrauen. In: Infosperber, 23. Oktober 2020. Die Barrington-Erklärung resultierte aus einem Treffen von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten am American Institute for Economic Research (AIER) in Great Barrington, Massachusetts. AIER ist ein ultralibertärer Thinktank und gehört zum Netzwerk der zahlreichen Denkfabriken, die vom Imperium der erzkonservativen Koch-Brüder mitfinanziert werden. Die Koch-Brüder zählen zu den zehn reichsten Männern der Welt. Erklärtes Ziel des Think Tanks ist es, eine „wirklich freie Gesellschaft“ zu fördern, „mit freien Märkten und einer begrenzten Regierung“. Anders ausgedrückt: Das AIER will die öffentliche Meinung manipulieren – für eine ungezügelte Wirtschaft.
Über den Autor
Erich Kitzmüller ist ein österreichscher Sozialwissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph, seine Themenschwerpunkte sind Geldwirtschaft und Grundeinkommen.