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Was war meine Leistung?
Die Frage nach Leistungsgerechtigkeit
Verfasst am 22. Oktober 2020
Sylvia springt mitten in der Diskussion auf, stellt sich in die Mitte und sagt: „Ja, ich habe 6 Kinder und ich bin stolz auf sie!“ Ein halbes Jahr hat sie dafür gebraucht sich in der Gruppe so zu zeigen. Bis dahin gab sie nur karge Antworten auf Fragen oder schwieg überhaupt.
Sylvia ist zugezogen. Sie war auf der Suche nach einer Wohnung, die halbwegs groß genug ist und günstig genug um sie sich leisten zu können. Denn sie lebt vom Notstand, Arbeitsplatz hat sie keinen, Mann auch nicht. Ein paar Euro verdient sie am Wochenende in einer Bar als Kellnerin – natürlich nicht angemeldet. Rasch verbreitet sich das Gerücht, dass es da wohl mehrere Väter für die Kinder gibt, sie ja auch nicht arbeiten will und von der Familienbeihilfe lebt. Sylvia ist 36 Jahre jung und attraktiv. Der Fantasie war also Raum gegeben.
Nun war das Eis gebrochen: Sie steht in der Mitte des Raumes, erzählt von dem einen Vater aller Kinder, den sie zu jung geheiratet hatte, weil sie schwanger war. Nun aber hat sie sich von ihm befreit, denn er ist Alkoholiker und gewalttätig. Von ihrer Familie bekam sie nie Unterstützung, Schulabschluss hat sie auch nicht. Sie berichtet von ihren Kindern, bei denen sie Wert legt auf ordentliche Kleidung, von der Schule, vom Lernen und davon, dass es schwer ist Schulveranstaltungen zu finanzieren. Sie will es ihren Töchtern ermöglichen, aber auch nicht ständig betteln gehen. Der Älteste hat eben seine Lehre als Installateur abgeschlossen und ist ausgezogen. Schließlich fügt sie noch hinzu: Ohne Tabletten fällt es ihr schwer zu schlafen. Im Raum ist tiefes Schweigen. In diesem Moment ziehe ich den Hut vor ihr. Ich bin beeindruckt, von ihrer Ehrlichkeit und dem was sie leistet, wie sie es schafft ihr Leben und das ihrer Kinder mit dem geringen ihr zur Verfügung stehenden Einkommen zu managen. Das Kartenhaus der rundherum erzählten Vorurteile bricht mit einem Male zusammen! Wie vielen Frauen geht es ähnlich? Hat nicht gerade die Coronakrise aufgezeigt wie fragil unsere Erwerbsgesellschaft ist: Homeschooling, Kinderbetreuung, Homeoffice oder gar Arbeitslosigkeit.
Jugendliche laufen um Lehrstellen, die es nicht gibt. Frauen und Männer bewerben sich bei Betrieben, die Arbeitskräfte suchen und werden trotzdem nicht genommen. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird immer größer, die Zahl der Hinausgedrängten nimmt zu. Gleichzeitig wird im neuen Sozialhilfegesetz gekürzt.
Seit Jahren wird der Bevölkerung von politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Personen glauben gemacht, dass nur (lohnsteuerpflichtige) Erwerbsarbeit gleichgesetzt werden kann mit Leistung. Und, so das unhinterfragte Credo, Leistung muss sich ja lohnen – mit Blick auf die Pension, die Sozialhilfe, das Arbeitslosengeld, sonstige sozialstaatliche Zuwendungen! Hier aber muss gefragt werden: Von welcher Leistung wird dabei geredet?! Alle, die meinen, dass Arbeit kriegt wer will, können wohl nicht rechnen. Schließlich bewerben sich heute rein statistisch rd. 20 Personen auf eine einzige, beim AMS registrierte offene Arbeitsstelle. Außerdem: Wer kennt die Geschichten der Menschen, die so behandelt werden? Wer weiß darum, wie sie im bisherigen Leben benachteiligt oder vielleicht sogar gedemütigt wurden? Wer kennt ihre Fähigkeiten und fragt danach? Werden diese Menschen überhaupt wahr-genommen?
Das bedeutet aber auch: Einkommen steht nicht primär aufgrund von Leistung zu, sondern des Mensch-Seins, vor allem dann, wenn es zu wenig Arbeitsplätze gibt. Im Sinne des Gemeinwohls hat die Gesellschaft dafür zu sorgen, dass alle ihr Auskommen haben. Denn welche Leistung können Schulabgänger erbringen, die keine Lehrstelle bekommen? Beginnt Anerkennung der Person erst ab der Erbringung einer von der Allgemeinheit definierten Leistung? Oder gebührt Anerkennung nicht grundsätzlich jedem Menschen, vor allem aber seinen und ihren Fähigkeiten, die – siehe Sylvia – meist nicht gesehen werden. Schließlich was ist mit der unbezahlten Leistung vor allem der Frauen?
Vorige Woche hatte ich einen Termin bei der Bank. Es war nicht wegen meines bescheidenen Reichtums, sondern weil „meine Beraterin“ mich dazu eingeladen hatte. Dabei bot sie mir auch Veranlagungen in verschiedenen Risikostufen an. Nun, wenn ich mich beteilige, ich trage das Risiko. Aber was ist mit dem Gewinn? Was war dann meine Leistung? Ist Leistung, dass ich mehr besitze als andere? Es ging um das Sparbuch, das ich vor Jahren von meiner Mutter geerbt habe und noch immer Sparbuch ist. Ist das gar meine Leistung?
Vor Weihnachten gab es in der am Anfang erwähnten Gruppe eine Feier. Bäckerei, Punsch und so wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mitgebracht. Zuvor gab es eine Besinnung, bei der der Refrain eines Liedes der Band STS gelesen wurde. Sylvia sprach halblaut – auswendig – den Text mit. Sie sprach wohl auch für sich!
Kalt und kälter
Und i wer‘ kalt und immer kälter
I wer‘ abgebrüht und älter
Aber das will i ned, und das muss i jetzt klär’n
I möchte lachen, tanzen, singen und rear’n
Angst und Schmerzen soll’n mi wieder würg’n
Und die Liebe möchte i bis in die Zehenspitzen spür’n
Nachtrag 1: Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen. (Franziskus, Evangelii Gaudium 88).
Nachtrag 2: Im Sammelband „Christlich-soziale Signaturen“ der Politische Akademie der neuen Volkspartei unterstreicht die Herausgeberin Bettina Rausch, dass Leistung ein Sozialprinzip der türkisen ÖVP darstellt. Leistung wird dabei weder definiert noch wird darauf hingewiesen, dass Leistung im Kanon der Katholischen Soziallehre nicht als Prinzip aufscheint.
Über den Autor
Karl A. Immervoll ist Theologe, Schuhmacher und Musiker, verheiratet und Vater von 3 erwachsenen Kindern. Der Löwenherz- und dreifache Papst-Leo-Preisträger war bis zur Pensionierung 37 Jahre Betriebsseelsorger im Waldviertel. Bekannt wurde Immervoll auch durch mehrere wegweisende Initiativen gegen Arbeitslosigkeit.