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Verfasst am 17. März 2021
Darwinismus auf dem Weg zur Staatsideologie - Teil 2
Wie leben mit Pandemien?
COVID-19 wird nicht die letzte Pandemie sein. Der global geführte Krieg gegen die Natur mit immer tieferen Eingriffen in gewachsene Lebensräume ist nahezu die Garantie für weitere, vielleicht schlimmere Pandemien. Jetzt ist der letzte Moment, ein erträgliches Umgehen damit zu erlernen.
Damals, zu Anfang des Jahres 2020 wurde weltweit auf die allerdümmste Art reagiert: indem das Virus zum Feind erklärt wurde, der zu besiegen sei – koste es was es wolle. Das geschah global und universell, quer durch Interessenslagen und Machtpositionen ohne Besinnung, fast automatisch. Welch ein Irrtum! Nichts an der Natur ist unser Feind. Alles hängt davon ab, wie wir uns mit widrigen Umständen und Gefahren arrangieren – im Anthropozän werden notgedrungen alle Menschen überall zum „wir“. Wie wir das Zusammenleben gestalten – lokal bis global – allein davon hängt es ab, ob wir auf Katastrophen taugliche Antworten finden und gemeinsam realisieren.
Das Virus als Feind, die Denkfigur ist nicht vom Himmel gefallen. Die panische Reaktion setzt konsequent fort, was seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten in den „nordwestlichen“ Gesellschaften tagtägliche Praxis war und ist, noch beschleunigt und globalisiert in den letzten Jahrzehnten. In den gängigen Selbstbildern, in Verfassungen, Grundrechtsdokumenten und Sonntagsreden wird diese Praxis nicht offen gelegt, eher vernebelt. Für Krisen innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen sind Gewalt, Gegengewalt und Feinderklärungen das bevorzugte, scheinbar stärkste Mittel zur „Normalisierung“ – wobei paradoxerweise die Spaltungen, Splitterungen, Verfeindungen und die Krisenkosten nur noch weiter zunehmen. Gegenwärtig eskaliert diese verhängnisvolle „Normalisierung“ als Krieg gegen die Natur, beschönigend „Klimawandel“ genannt.
Die Antwort auf die Pandemie?
Zu Anfang 2020 war die Antwort auf den neuen „Feind“ spontan und universell: Es gelte, jede Person, unterschiedslos alle, gegen die Folgen der Pandemie schützen. Niemand, auch und besonders nicht die in irgendeiner Weise Schwachen, wird fallen gelassen. So zu antworten, ist nicht selbstverständlich, es knüpft an mühsam etwa in Europa erkämpfte Traditionen der rechtlichen Gleichheit an. Zwar sind diese Traditionen weithin nur Fassade. Umso erstaunlicher, aber auch ermutigend, jetzt ihre Wiederentdeckung als Antwort auf die Pandemie.
Was tun? Die Methoden des Schutzes konnten nicht aus einem gesicherten Wissen entwickelt werden. Das Virus war und ist in vielem auch heute noch unzureichend verstanden. Improvisieren war angesagt. Zugleich würde nur ein jeweils für die Stunde überzeugendes Schutzprogramm, das sich irgendwie auf Experten beruft, die nötige massenhafte Zustimmung gewinnen. Aber ausgerechnet in Krisenzeiten ist Wahrheit die Tochter der Zeit. Die gesellschaftlichen Folgen der unvermeidlichen Improvisation waren absehbar, und doch überraschten sie. Die scheinbar alternativlose, selbstverständliche Normalität war in wichtigsten Lebensbezirken schlagartig erschüttert. Die Fixierung auf das Virus als Feind rächt sich. Der Feind ist offenbar nicht rasch zu eliminieren. Ein nüchterner und zugleich phantasievoller Umgang mit der Pandemie, der die Veränderungschancen einbezieht, fand und findet in Medien und Wissenschaft wenig Resonanz, im Regierungshandeln gar keine. Massenhafte Verwirrung war und ist die Folge. „Zurück zur alten Normalität“ wurde zur Zukunftshoffnung.
(K)ein Weg zurück
Zurück wohin? Zurück zum Lebensstil der Spaßgesellschaft mit beliebigen Fernreisen und jeder Menge Spaß-Events quasi als individueller Rechtsanspruch? Begrenzt nur durch Mangel an Vermögen und Einkommen? Zurück zur vermeintlichen Freiheit als individueller Freiheit zu schrankenloser Bewegung überall, jederzeit und ohne Rücksicht auf andere, nun eben ohne Rücksicht auf Ansteckungsgefahr?
Und zurück zum sogenannten „Wachstum“ der Wirtschaft, also zum intensivierten Krieg gegen die Natur, zurück zur Auslieferung der Gesellschaften und Staaten an die aggressiven Komponenten der Finanzindustrie, weiter zur immer tieferen Kluft zwischen wenigen Superreichen und 98% Rest von? Zurück zur multiplen Erzeugung der kommenden großen sozialen Krise – noch beschleunigt durch die Pandemie?
Zwei unterschiedliche Rückwärtsbewegungen also wollen uns Zukunft bringen. Die eine ist angetrieben aus dem vermeintlichen Zwang zu grenzenlosem „Wachstum“ und Beschleunigung, die andere aus einem Lebensgefühl, das Freiheit mit individueller Spaßmaximierung und Rücksichtslosigkeit verwechselt. Freiheit nicht als der Kern des Politischen – eine durch Institutionen und Verpflichtungen verbundene Gemeinsamkeit freier Personen –, sondern als Spielen mit beliebigen individuellen Freiheiten.
Wird die doppelte Rückwärtsbewegung mehrheitsfähig? Das mag noch dauern. Erst allmählich dämmert die Einsicht, die Ausbreitung der Pandemie ist nur vorübergehend und nur phasenweise unter Kontrolle. Unmut, Ängste und Befürchtungen nehmen rasch zu, befördert auch durch oft unklare und widersprüchliche Vorgaben der politischen und auch der medizinischen Autoritäten: Sind sämtliche positiv Getesteten Gefährder? Die Autoritäten haben einen Machtzuwachs erfahren, und die Versuchung liegt nahe, das in Richtung Diktatur auszubauen. Das erstaunliche anfängliche Vertrauen in das Regierungshandeln, jedenfalls in einigen Ländern, könnte schwächer werden. Verunsicherung, Misstrauen, Verschwörungsfantasien schwellen an. Inzwischen haben die Propagandakampagnen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das Fundament bisheriger Virusabwehr – „schon bald haben wir’s geschafft“ – bröckelt. Wir werden mit dieser Pandemie und mit kommenden Pandemien leben, das bleibt wohl für Jahre Teil der Realität, allmählich vielleicht abgeschwächt.
Freiheit vs. Solidarität
Noch wird in den meisten Ländern Europas die Strategie der Eindämmung mehrheitlich hingenommen. Doch die Zustimmung wird immer mehr durch eine diffuse, aber breite Gegenbewegung niedergewalzt. Gemeinsam ist den Aufbegehrenden der emotionale Antrieb „weg mit den Einschränkungen“. Die vorgebrachten Argumente sind vielfältig, aber nicht sie, sondern die Emotionen geben dem Aufstand Wucht und politisches Gewicht. „Freiheit“ wird zurückgefordert, hier die Freiheit der Wirtschaft, weiterzumachen wie zuvor, dort die Freiheit, sich beliebig zu bewegen wie vor der Pandemie. Das alles mit Berufung auf Grundrechte und Verfassungen – die nur als Rechte der Individuen beansprucht werden, nicht als allgemeine politische Rechte und Verpflichtungen.
Eine Welle von Protesten rollt an mit eventuell gewaltbereiten Aufständen gegen „die Schuldigen“, zunächst gegen Regierungen und „Systemmedien“, doch man wird besser zu Sündenböcken geeignete soziale Gruppen finden. „Weg mit der Gesundheitstyrannei!“ Die notwendige, nützliche Kritik an einem oft kurzatmigen Regierungshandeln wird überschwemmt durch den Ausbruch von Wut und Verachtung. Das bläht sich schon länger auf, die Ursachen sind nicht erst Folgen der Pandemie.
Eine Ganz-Große-Koalition bisher unbekannten Formats entsteht. Sie verbindet einerseits in der Wirtschaft mächtige Kreise samt ihren politischen und medialen Gehilfen – „die Wirtschaft muss arbeiten können“, also zurück zur „Normalität“ – und andererseits die rasch wachsende, sozial diffuse Menge von Frustrierten und Geängstigten – was immer ihre Ängste und Frust durch Jahrzehnte aufgestaut hat, und was immer sie jetzt auslöst.
Es wird nicht an Interessensgruppen fehlen, die alle Wut und Empörung zum Angriff auf den Kern der Strategien nutzen: Schluss mit Gleichheit, Schluss mit Schutz für alle, Schluss mit der Eindämmung der Ansteckung. Die Chancen für diesen Angriff, das sollte nicht unterschätzt werden, stehen gut. Die Stimmung könnte kippen, und eine Politik, die sich vornehmlich an Stimmungen der Wähler orientiert, könnte rascher als bisher vermutet umschwenken zum allgemeinen laissez faire nach dem Vorbild des Wirtschaftssystems, sicherlich dann beschönigt als „Konzentrierter Schutz für Risikogruppen“.
Menschengruppen auszusondern und sie zwecks Sonderbehandlung und Kontrolle zu konzentrieren, das wäre der größte zivilisatorische Rückschritt seit 75 Jahren. Die vermeintliche Wohltat für die große Minderheit der besonders Schutzbedürftigen – und dieses Motiv würde ironischerweise viele Unterstützer bewegen, sie über den tatsächlichen Charakter der Aussonderung hinwegtäuschen und so für ein gutes Gewissen sorgen – wäre im Gegenteil ein entscheidender Schritt zum Darwinismus als Basisideologie der Gesellschaften. Nur wer stark ist, überlebt – hier die Jungen und alle, die Herdenimmunität erreichen. Nur die Starken sollen überleben – und die schiere Tatsache, dass sie überleben, wird dann ihre Stärke beweisen.
Initiativen wie die Great Barrington Declaration bereiten den Umschwung zum Darwinismus als gesellschaftliches Leitbild intellektuell vor, indem sie den Anschein einer wissenschaftlichen Begründung erzeugen. Jetzt braucht Widerspruch Nachhall.
Über den Autor
Erich Kitzmüller ist ein österreichscher Sozialwissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph, seine Themenschwerpunkte sind Geldwirtschaft und Grundeinkommen.