Grundprinzip "Gratuität“ – Benedikt XVI. und die Katholische Soziallehre
GRUNDPRINZIP „GRATUITÄT“ – Benedikt XVI. und die Katholische Soziallehre
Man wird die kirchliche Sozialverkündigung gewiss nicht als Schwerpunkt im päpstlichen Wirken Joseph Ratzingers in Erinnerung behalten. Die Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre spielte bei ihm nicht jene prominente Rolle wie vergleichsweise bei seinem Vorgänger Karol Wojtyla. Am ehesten kann noch die 2009 aus Benedikts XVI. Hand erschienene Enzyklika Caritas in veritate (CV) als „Sozialenzyklika“ gelten. Wie gut sie sich allerdings in die über 130-jährige Tradition der Katholischen Soziallehre integrieren lässt, darüber sind selbst Fachkreise geteilter Meinung.
Das mag mit weit verbreiteten Einschätzungen der Persönlichkeit Joseph Ratzingers und seiner in mancherlei Hinsicht neuplatonisch anmutenden Theologie zu tun haben. Viele trauen seinem Charakter schlichtweg nicht zu, dass ihn die brennenden sozialen Fragen seines Pontifikats wirklich zuinnerst berührt und bewegt hätten. Zu häufig gerieten seine Äußerungen über die sozialen und kulturellen Entwicklungen der (Post-)Moderne zum Lamento eines aus seiner Sonderwelt heraus kritisch beobachtenden Intellektuellen, als dass man ihm echte Verankerung, Kompetenz und Glaubwürdigkeit in Fragen der Wirtschaft, der Politik und Gesellschaftsentwicklung zugebilligt hätte. Bezeichnend und mit Bedauern festzustellen ist auch die Tatsache, dass CV jeder Erwähnung einer kirchlichen Selbstverpflichtung auf die in ihr erhobenen Forderungen im Sinne einer Vorbildwirkung und Stärkung ihrer Glaubwürdigkeit entbehrt. Das gehörte in den unmittelbaren Vorgänger-Dokumenten der kirchlichen Soziallehre eigentlich schon zum Standard.
Nichts desto weniger setzte Benedikt XVI. mit seiner „Sozialenzyklika“ Akzente, die bis heute aktuell und der bleibenden Erinnerung bzw. praktischen Beherzigung würdig sind: CV kann und muss zunächst als Reaktion auf die schwere Finanz- und daraus folgende Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise von 2007/08 gelesen werden, die als Krise eines zielblind gewordenen Markt-Totalitarismus‘ interpretiert wird. Im Rückgriff auf die Sozialverkündigung seiner Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. rückt CV mit Gerechtigkeit und Gemeinwohl zwei Prinzipien ins Zentrum, die als für die Entwicklung einer Gesellschaft auf dem Weg in die Globalisierung besonders wesentlich markiert werden. Im Sinne dieser beiden Prinzipien fordert die Enzyklika eine gerechtere Verteilung der Vermögen, die Bekämpfung von Hunger und Arbeitslosigkeit, die Abkehr von bloßer Konsumorientierung in Wirtschaft und Lebensstil, eine kritische Überprüfung und Neuausrichtung wirtschaftlichen Unternehmertums sowie eine Neuordnung und Regulierung der Finanzwirtschaft. Außerdem befürwortet CV den Einsatz erneuerbarer Energieformen sowie eine politische Weltautorität mit globaler Gemeinwohlorientierung und fordert eine solidarische Form der Entwicklungszusammenarbeit ohne gewinnsüchtige Hintergedanken. Das alles war im Kontext kirchlicher Sozialverkündigung bereits 2009 nicht mehr wirklich neu, bleibt aber eine immer noch gültige und ihrer entschlossenen und nachhaltigen Umsetzung harrende Agenda einer das Welt-Gemeinwohl im Blick habenden Politik.
Ein Gedanke der Enzyklika verdient allerdings besondere Aufmerksamkeit und mag auch als originärer Beitrag des Theologen Joseph Ratzinger zur kirchlichen Sozialverkündigung Geltung beanspruchen: die Idee der Integration eines Prinzips der „Gratuität“ (i.e. Geschenkhaftigkeit bzw. Unentgeltlichkeit) v.a. in das wirtschaftliche Handeln, aber auch als sine qua non gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieses besäße in sozialen Interaktionen, die nur im Prinzip des marktkonformen Austauschs warenförmiger und also handelbarer Leistungen gründen, ein allzu schwaches Fundament. Eine wahrhaft humane Gesellschaft steht und fällt vielmehr mit der Bereitschaft von Einzelpersonen und Gruppen zu „geben“, ohne dieses Geben unter die Bedingungen eigener Profit-Interessen zu stellen – oder mit John F. Kennedy, dessen Ermordung sich heuer zum 60. Mal jährt: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst!“
Die in CV ausgeführte Herleitung des Prinzips der Gratuität aus der christlichen Schöpfungs- und Gnadenlehre mag für den öffentlich-politischen Diskurs vielleicht wenig geeignet sein und sich in dieser Form auch nur schwer in den Traditionsstrang der Katholischen Soziallehre integrieren lassen. Hier hätte sich eher ein guter Ansatz geboten, das (christliche) Grundprinzip der Solidarität als „Grundvitamin“ funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenlebens und zugleich existentielle Seins-Tatsache durchzubuchstabieren. Dieses meint in der Katholischen Soziallehre ja mehr als bloßen Altruismus und freiwillige, supererogatorische Mehrleistungen einzelner „Gutmenschen“; es muss sich vielmehr als gesellschaftlich organisierte Solidarität in verpflichtenden Strukturen (auch der Wirtschaft) verwirklichen. Gleichwohl – und darin liegt ein echtes Verdienst von CV – ist diese für reine Markttheoretiker vielleicht provozierende, u.U. sogar verstörende Idee der Gratuität dazu geeignet, an den eigentlichen Sinn und Zweck menschlichen Wirtschaftstreibens zu erinnern: Dienst an Mensch und Gesellschaft.
Dr. Markus Schlagnitweit, Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksœ)
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Vgl. dazu auch: M. Schlagnitweit, Einführung in die Katholische Soziallehre. Kompass für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Freiburg-Basel-Wien (Herder) 2021